V. Die vorrangige Aufgabenstellung der Synode 2014: das
Verhältnis Kirche-Welt
27. FRAGE: Nach der
Methodologie der Synode soll der „Anhörung“ der Gläubigen vorrangige
Wichtigkeit zukommen. Was ist von dieser neuen Priorität zu halten?
ANTWORT: Die Kirche ist in
ihrem Handeln immer von den auf dem Wort Gottes und auf der Überlieferung
beruhenden Glaubenswahrheiten ausgegangen, um darauf eine Pastoral aufzubauen,
die im praktischen Leben umgesetzt werden kann, und auf diesem Weg die Menschen
zum ewigen Heil zu führen. Ein altes Sprichwort sagt, „werde, was du bist“, das
heißt, erfülle deine Berufung. Nicht zufällig überschrieb der hl. Papst
Johannes Paul II. den 3. Teil seiner Enzyklika Familiaris consortio über die
Aufgaben der christlichen Familie mit den Worten: „Familie, werde, was du bist!“
Während der Synode zeigt sich
eine Tendenz, die in eine ganz andere Richtung führen würde: es wurde
gefordert, die Kirche solle, von der konkreten gegenwärtigen Situation
ausgehend, eine an diese Situation angepasste neue Pastoral und Disziplin
entwerfen. Hier läuft man Gefahr, so der große Kirchenrechtler Velasio de
Paolis, in die „Moral der Situation“ hineinzuschlittern, was soviel bedeutet,
wie das genannte Sprichwort umzukehren: „sei das, was du geworden bist“ — mit
anderen Worten, passe dich den gegenwärtigen Tendenzen an.
Diese Methode setzt eine
„historizistische“ Auffassung voraus, die nicht von der offenbarten Wahrheit,
sondern von der aktuellen historischen Situation ausgeht, der sich die Kirche
anpassen soll, um sie christlich zu „beleben“, wie einige meinen, oder, nach
Meinung von anderen, um überhaupt überleben zu können.
„Tatsächlich hat sich der
Dialog mit der Welt in Anpassung an die Welt verwandelt und vielleicht sogar zu
einer gewissen Verweltlichung und Säkularisierung der Kirche beigetragen, die
damit dann nicht mehr den ausreichenden Einfluss auf die Kultur der Zeit und
auch keine Durchschlagskraft für ihre Botschaft mehr hatte. Das hat zu einer
Krise in der Kirche selbst geführt. (…) Im lobenswerten Versuch, mit der
modernen Kultur Dialog zu führen, läuft die Kirche Gefahr, selbst die göttliche
Wahrheit, die ihre eigentliche Natur ausmacht, beiseite zu schieben, um sich
der Welt anzupassen: sie leugnet zwar natürlich nicht die eigene Wahrheit, aber
sie stellt sie nicht in den Mittelpunkt des Dialogs und zögert nur allzu oft,
Lebensideale als erstrebenswert hinzustellen, die nur im Lichte des Glaubens
sinnvoll und nur mit Hilfe der Gnade praktizierbar sind. Die Kirche läuft
Gefahr, ihre wahrste und tiefste Botschaft aufzuweichen, aus Angst, von der
modernen Kultur abgelehnt zu werden oder um sich dieser anzubiedern“ (Kardinal
Velasio De Paolis, zit. Vortrag, SS. 7 und 30).
28. FRAGE: Wurde diese Haltung
wirklich von einigen der Synodenväter bestätigt?
ANTWORT: Ein renommierter Synodenteilnehmer
soll erklärt haben: „Es gibt auch eine theologische Entwicklung, alle Theologen
bestätigen das. Nicht alles ist statisch, wir schreiten voran in der
Geschichte, und die christliche Religion ist Geschichte und nicht Ideologie.
Der gegenwärtige Kontext der Familie ist anders als vor 30 Jahren, in der Zeit
der Familiaris consortio [des hl. Johannes Paul II.]. Ohne Geschichte weiß ich
nicht, wohin wir gehen werden; wenn wir das verneinen, bleiben wir dort stehen,
wo wir vor zweitausend Jahren waren“ (Corriere della Sera, 4.10.2014).
29. FRAGE: Können wir dann
behaupten, dass die christliche Religion sich im Laufe der Geschichte
entwickelt und verändert?
ANTWORT: Die christliche
Religion ist keine historische Evolution, die veränderlich und widersprüchlich
ist, sondern geoffenbarte Wahrheit, Lebensquell und Weg zum Heil; sie
identifiziert sich mit Jesus Christus, der gesagt hat: „Ich bin der Weg, die
Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Der Erlöser gab seiner Kirche den Auftrag,
die Menschheit zu evangelisieren, und nicht, sich von dieser „evangelisieren“
zu lassen; die Menschen zu führen und nicht, von ihnen geführt zu werden; den
Lauf der Geschichte zu heiligen und nicht, von ihm „geheiligt“ zu werden. Die
Katholische Kirche hat den Auftrag, die Frohe Botschaft zu verkünden, die
Menschheit zu heiligen und die Seelen zum ewigen Leben zu führen. Die Kirche
ist die Mater, Magistra et Domina gentium und nicht die Menschheitsgeschichte
oder die Welt.
Es ist durchaus richtig, dass
neue Fragen und Probleme nach angemessenen Antworten verlangen. Diese müssen
aber fest in dem unberührbaren depositum fidei, dem gesamten Glaubensgut,
verankert sein und mit diesem übereinstimmen.
30. FRAGE: Ist es wahr, dass
die Sittenlehre der Kirche heutzutage den Kontakt mit dem echten Leben verloren
hat, weil sie eine nicht mehr existierende Realität voraussetzt und daher einer
breiten Anpassung an die aktuelle Situation bedarf?
ANTWORT: Die Lehren der
Kirche, auch auf sittlicher Ebene, sind „per definitionem“ katholisch, das
heißt, beziehen sich auf das Ganze - und
nicht nur auf einen Teil des Ganzen - und sind deshalb dauerhaft und universal.
Die griechischen Väter nannten sie den „ewigen Schatz“ (thèma eis aèi), da sie
sich auf zwei unveränderliche Wirklichkeiten stützen: die von Gott geschaffene
menschliche Natur und die von Jesus Christus geoffenbarten ewigen Wahrheiten.
Die „moderne Welt“ hat jedoch in vielen wichtigen Fragen den Kontakt mit der
Wahrheit verloren und sich von der Kirche getrennt. Dadurch ist sie, wie man
heute allgemein beobachteten kann, vom Weg abgekommen und in vieler Hinsicht
gescheitert.
Die historische Veränderung
der Gesellschaft ist die Folge von sittlichen und kulturellen Irrtümern und
Fehlern, die daraus entstanden sind, dass die Menschen ermutigt wurden, ihren
ungeordneten Leidenschaften nachzugeben. Die Kirche darf sich diesen Irrtümern
und ihren Folgen nicht anpassen, sondern muss sie identifizieren, beim Namen
nennen und beseitigen. Nur so kann es zu einer echten Aktualisierung ihrer
Pastoral kommen.
31. FRAGE: Sind die jüngsten
Veränderungen im familiären und sexuellen Leben nicht Teil der modernen Kultur
und Folge einer unaufhaltsamen historischen Evolution, die nicht verurteilt
werden darf, sondern nur zur Kenntnis genommen werden sollte?
ANTWORT: Die von der sexuellen
Revolution verursachten soziokulturellen Veränderungen werden allzu leicht als
unvermeidlich und irreversibel akzeptiert. In Wahrheit sind sie aber häufig nur
kurzlebige pathologische Erscheinungen einer heilbaren geistigen Krankheit. Auf
jeden Fall gibt es keine menschlichen Umstände oder Verhaltensweisen, die nicht
einem moralischen Urteil unterworfen werden können; sie können und müssen mit
dem Maß der Wahrheit und der Gerechtigkeit gemessen werden. Der hl. Paulus hat
dies sehr oft getan und hat auch die einem Christen nicht geziemenden
Verhaltensweisen aufgelistet (Röm 1,26-32; 1 Kor 6,9-10; 1 Tim 1,9).
Vor kurzem hat ein
renommierter Moraltheologe, Kardinal Carlo Caffara, Erzbischof von Bologna, über
gewisse Denkmuster gesprochen, die in der Kirche vermieden werden sollten. Als
Beispiel nannte er „das Gutmenschentum, das die Meinung vertritt, die Kultur,
von der ich gesprochen habe (AdR: die der sexuellen Revolution), sei ein
unaufhaltsamer historischer Prozess. Als Lösung wird ein Kompromiss (mit dieser
Revolution) vorgeschlagen, der alles vermeintlich Gute bewahren soll, was man
in ihr zu erkennen glaubt“ (Kardinal Carlo Caffara, Tre strade per costruire la
verità del matrimonio [Drei Wege, um die Wahrheit der Ehe aufzubauen],
Avvenire, 12.3.2015).
32. FRAGE: Welche Fragen
sollte man sich dann über die aktuelle Trennung zwischen Kirche und Welt
stellen?
ANTWORT: Man sollte sich die
folgenden Fragen stellen: Wie ist es gekommen, dass die „moderne Welt“ die
Lehre der Kirche über so viele grundlegende Fragen der menschlichen Existenz
zurückgewiesen hat? Welcher historische Prozess hat zur aktuellen Trennung
zwischen Kirche und Welt geführt? Wie kann die Kirche die „Wunden heilen“, die
in der heutigen Gesellschaft aufgebrochen sind, und die verlorene Gesundheit
wiederherstellen, ohne sich von der Krankheit anstecken zu lassen? Die
Beantwortung dieser Fragen wird zeigen, auf welche realen Situationen die
Pastoral der Kirche reagieren muss und wie sie dies tun kann, ohne die
überlieferte Lehre zu verleugnen.
Der Versuch, nur die
schwerwiegendsten und am meisten ins Auge fallenden Folgen der Situation
aufhalten zu wollen, wird nicht viel bringen. Eine Krankheit kann nur unter
Anwendung der richtigen Arznei und durch Beseitigung ihrer Ursachen geheilt
werden. Doch dazu müssen die Hirten emotionale Reaktionen vermeiden, eine
ehrliche und richtige Diagnose stellen und dann die wirksamste Arznei
verschreiben (vgl. Kardinal Velasio de Paolis, zit. Vortrag, SS. 6-9).
Fortsetzung: Vorrangige Option für die Familie V I
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