VI. Sittenlehre
und pastorale Praxis
33. FRAGE: Man hört immer
wieder, die Synode wolle gar nicht die Sittenlehre über die Familie ändern,
sondern nur die diesbezügliche Pastoral der Kirche „aktualisieren“. Ist das
wahr?
ANTWORT: Einige Bischöfe
behaupten, man hätte nicht nur eine „Aktualisierung“ der Pastoral im Blick,
sondern wolle auch über Änderungen der Lehre entscheiden.
Diese Sichtweise geht davon
aus, dass der überlieferten Lehre heute nicht nur durch die Praxis vieler Gläubiger
widersprochen wird – was Tatsache ist –, sondern auch durch die Forderungen der
kirchlichen Pastoral, was eine Rechtsfrage aufwirft. Um diesen Widerspruch zu
beseitigen, wird vorgeschlagen, das Recht den Tatsachen anzupassen, das heißt,
die Sittenlehre zu „vertiefen“, indem man sie den Notwendigkeiten der „neuen
Pastoral“ anpasst, die auf die Ergebnisse der „Anhörung“ des Gottesvolks
gestützt werden soll.
Was die Kirche allerdings
wirklich braucht, ist eine echte Reform, die das Verhalten der Christen wieder
zu der Sittenreinheit und doktrinalen Integrität zurückführt, von der man sich
abgewendet hat.
Andere Prälaten brachten sogar
eine These zum Ausdruck, die man wie folgt zusammenfassen könnte: „Ein
sexuelles Verhältnis, das objektiv sündhaft ist, verliert in großem Maß seinen
negativen moralischen Charakter, wenn beide Partner dieses Verhältnis auf
regulärer Basis beibehalten und gegenseitige Treue zeigen“. Wenn man diesen
Fehlschluss auf andere Bereiche ausdehnen wollte, könnte man zum Beispiel sagen:
„Wenn zwei Komplizen regelmäßig einen Laden berauben und sich treu ihren
gegenseitigen Abmachungen verhalten, vermindert das spürbar den negativen
Charakter des Verbrechens“.
34. FRAGE: Auch wenn hier
jetzt keine Änderung der Lehre vorgeschlagen wird, sondern nur ein neuer
„pastoraler Ansatz“ - ist es überhaupt möglich, die Pastoral zu verändern, ohne
dass damit gleichzeitig auch die Lehre beeinflusst wird?
ANTWORT: Ebenso wie der Körper
nicht von der Seele, die ihn belebt, getrennt werden kann, kann auch die
Pastoral keinesfalls von der Sittenlehre getrennt werden, in der sie ihre
Rechtfertigung findet. Daher kann eine Änderung der Pastoral sehr leicht dazu
führen, dass dadurch die ihr zu Grunde liegende Lehre — zumindest indirekt — verändert wird.
Außerdem gibt es keine
neutralen Praktiken; jede Praxis setzt eine Theorie, eine bestimmte Auffassung
der Natur des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte voraus. Der Begriff
der Praxis als solcher setzt schon ein Ziel voraus, auf das sie gerichtet sein
soll, das heißt, ein Ideal, das es zu verwirklichen gilt. In unserem Fall hat
das Konzept einer „pastoralen Praxis“ nur dann Sinn und Wert, wenn es von der
wahren Bedeutung von Kirche, Menschlichkeit und Familie ausgeht.
„Die Pastoral ist eine Kunst,
die sich auf Dogmatik, Moral, Spiritualität und Recht gründet, um im konkreten
Fall klug vorgehen zu können. Es kann keine Pastoral geben, die nicht mit den
Glaubenswahrheiten und der Morallehre der Kirche übereinstimmt, die ihren
Gesetzen widerspricht oder die nicht auf das Erreichen des christlichen Ideals
ausgerichtet ist. Eine Pastoral, die im Gegensatz zur geglaubten und gelebten
Wahrheit der Kirche steht (…), wird leicht zu Willkür, die dem christlichen
Leben schaden wird“ (Kardinal Velasio de Paolis, In der Wahrheit Christi
verbleiben, a.a.O. S. 157-158)
Der Präfekt der Kongregation
für den Gottesdienst und die Disziplin der Sakramente, Kardinal Robert Sarah,
erklärte vor kurzem: „Die Idee, das Lehramt in einen schönen Schrein zu legen
und es von der pastoralen Praxis zu trennen, die sich nach Gegebenheiten, Moden
oder Leidenschaften entwickeln könnte, ist eine Form der Häresie, eine
gefährliche pathologische Schizophrenie“ (La Stampa, 24.2.2014)
35. FRAGE: Wenn es schon nicht
möglich ist, die Lehre als solche zu ändern, ist es dann wenigstens erlaubt,
durch eine neue Pastoral die kirchliche Disziplin über die Familie zu
modifizieren?
ANTWORT: Es hängt davon ab,
was man unter „Disziplin“ versteht. Häufig bezeichnet dieser Begriff nur ein
System von praktischen Regeln, die den Menschen in ihrem Denken und Tun
behilflich sein sollen. In diesem Sinn kann sie geändert werden. Es stimmt,
dass es in der Katholischen Kirche auf Vereinbarung beruhende und daher
abänderbare disziplinarische Konventionen gibt; es gibt aber auch
disziplinarische Regeln göttlichen Rechts, wie zum Beispiel die Zehn Gebote,
die von der kirchlichen Obrigkeit nicht geändert werden können.
Was die Ehe und Familie
betrifft, sind einige der geltenden disziplinarischen Normen göttlichen
Ursprungs, bestätigt und vervollständigt durch Jesus Christus selbst und
deshalb für die Kirche verbindlich; sie können von niemandem geändert werden,
auch nicht vom Papst.
„Es ist jedoch unbedingt zu
vermeiden, dass die pastorale Sorge als Gegenposition zum Recht missdeutet
wird. Man sollte vielmehr von der Voraussetzung ausgehen, dass der grundlegende
Berührungspunkt zwischen Recht und Pastoral die Liebe zur Wahrheit ist“
(Benedikt XVI., Sacramentum Caritatis, Nachsynodales Apostolisches Schreiben
vom 22. Februar 2007, Nr. 29).
36. FRAGE: Sollte sich die
Kirche in vielen moralischen Fragen nicht der Mentalität und der Praxis der
Mehrheit der Gläubigen anpassen, die heute eine größere Flexibilität fordern?
ANTWORT: Die Kirche hat die
mütterliche Aufgabe, die Gläubigen zum Heil zu führen, indem sie sie auch in
ihrem Familienleben heiligt. Es sind also die Gläubigen, die sich den
moralischen Lehren der Kirche anpassen und dadurch in ihrem Leben die von Jesus
Christus gepredigten Wahrheiten verwirklichen müssen. Wie der emeritierte
Erzbischof von Bologna, Kardinal Giacomo Biffi, richtig zu sagen pflegt, müssen
die Hirten, deren Aufgabe es ist, ihre Herde zu weiden und die verlorenen
Schafe zurück zur Herde zu bringen, darauf achten, dass sie sich nicht selbst
verirren, wenn sie unklugen oder widerspenstigen Schafen nachlaufen.
Die Mehrheitsmeinung der
Gläubigen stellt kein Kriterium der theologischen Wahrheitsfindung und schon gar keine „Quelle der Offenbarung“
dar. Hinzu kommt noch, dass die gegenwärtige öffentliche Meinung, auch die
kirchliche, seit langem von Lobbies aus der Kulturszene und den Medien
manipuliert wird, die eine radikale antichristliche Revolution betreiben. Der
damalige Kardinal Ratzinger hat sich sehr ausführlich über die Ungültigkeit des
Kriteriums der Mehrheit in moralischen Fragen geäußert.
„Ein ernstes pastorales
Problem besteht darin, schreibt Kardinal Müller, dass manche heute die
christliche Ehe ausschließlich anhand weltlicher und pragmatischer Kriterien
beurteilen. Wer nach dem ,Geist der Welt‘ (1 Kor 2,12) denkt, kann die
sakramentale Natur der Ehe nicht begreifen. Auf dieses wachsende Unverständnis
gegenüber der Heiligkeit der Ehe kann die Kirche nicht durch pragmatische
Anpassung an das vermeintlich Unausweichliche reagieren; sie muss auf ,den
Geist, der aus Gott stammt‘ vertrauen (1 Kor 2,12)“ (Kardinal Gerhard Müller,
Präfekt der Glaubenskongregation, Über die Unauflöslichkeit der Ehe und die
Debatte in Bezug auf die zivil Wiederverheirateten und die Sakramente, in: In
der Wahrheit Christi bleiben: Ehe und Kommunion in der katholischen Kirche,
Echter Verlag, Würzburg, 2014, S. 125).
37. FRAGE: Sollte die Kirche
nicht – in Anlehnung an das mosaische
Gesetz – für die „bedauerlichen Fälle“ derer, die in einer „unregelmäßigen
Situation“ leben, mehr Toleranz zeigen?
ANTWORT: Eine solche Toleranz
würde das Gesetz des Evangeliums durch das Gesetz des Moses ersetzen, mit der
Gefahr, dass die Gläubigen in die „Hartherzigkeit“ verfallen könnten, durch die
Moses gezwungen wurde, dem hebräischen Volk die Ehescheidung zu erlauben.
„Jesus betonte die
ursprüngliche Absicht des Schöpfers, dass die Ehe unauflöslich sei. Er hob die
Duldungen auf, die sich in das alte Gesetz eingeschlichen hatten“ (vgl. Mt 19, 7-9) (Katechismus der
Katholischen Kirche, Nr. 2382).
„Die Kirche wird niemals müde,
diese Wahrheit zu lehren und zu bezeugen. Auch wenn sie mütterliches
Verständnis für die zahlreichen und komplizierten Krisensituationen, in die die
Familien verwickelt sind, sowie auch für die moralische Schwachheit jedes
Menschen bekundet, ist die Kirche der Überzeugung, dass sie der Wahrheit über
die menschliche Liebe absolut treu bleiben müsse: andernfalls würde sie sich
selber verraten“ (hl. Johannes Paul II., Gratissimam sana, Brief an die
Familien, vom 2. Februar 1994, Nr. 11).
38. FRAGE: Stimmt es, dass die
Toleranz für unregelmäßige Situationen der Ehe in anderen Kirchen oder
Religionen positive Ergebnisse gebracht habe?
ANTWORT: Ganz im Gegenteil. In
protestantischen Ländern hat diese Methode der Toleranz katastrophale Folgen
gezeigt. „Hat diese Toleranz etwa zu einer geistlichen Erneuerung der Kirche
von England geführt? Blühen und gedeihen die deutschen Lutheraner? Gibt es
einen neuen Frühling für die liberalen Presbyterianer Amerikas? Soziologische
Fakten scheinen das Gegenteil zu sagen“, wie die Professoren vom Päpstlichen
Institut Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie, Rom festgestellt
haben (vgl. J. J. Perez-Soba und S.
Kampowski, a.a.O. S. 38).
39. FRAGE: Es wird behauptet,
die Zahl der praktizierenden Gläubigen nehme ab, wenn eine strenge Befolgung
gewisser moralischer Vorschriften gefordert wird, wie zum Beispiel eheliche
Treue. Wäre es da nicht angebracht die Strenge dieser unpopulären Vorschriften
zu lockern?
ANTWORT: Menschen, die in
ungeordneten Situationen leben, sind auch selten praktizierende Katholiken.
Außerdem fällt die Zahl der Praktizierenden nicht, wenn zur Befolgung gewisser
moralischer Vorschriften ermutigt wird; im Gegenteil, sie steigt an, ebenso wie
auch die geistlichen Berufungen zunehmen, wenn von den Novizen ein strengeres
Engagement verlangt wird.
„Auf der anderen Seite sind
die wachsenden Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gerade diejenigen, die
sehr anspruchsvolle und der Gegenwartskultur gegenläufige sittliche
Anforderungen stellen“ sagt Prof. Kampowski mit Bezug auf das Buch How the West
really lost God [Wie der Westen Gott wirklich verloren hat] der amerikanischen
Soziologin Mary Eberstadt (J.J. Perez-Soba und S. Kampowski, a.a.O. S. 39)
40. FRAGE: Wäre es in
Anbetracht der Tatsache, dass heute viele Katholiken die Moralvorschriften der
Kirche nicht mehr befolgen, nicht angebracht, gewisse irreguläre Situationen zu
tolerieren, um mehr Menschen zur Kirche zu bringen?
ANTWORT: Die Möglichkeit einer — in der Praxis höchst unwahrscheinlichen — Zunahme der religiösen Praxis bei
einigen Personen, die in irregulären — das heißt, unrechtmäßigen und
unmoralischen — Situationen leben, darf keinesfalls um den Preis erkauft
werden, dass dafür die Moral des Evangeliums und das Lehramt der Kirche
verleugnet werden und dadurch der Glaube der treuen und ordentlich lebenden
Katholiken geschwächt wird.
Eine Änderung der
zweitausendjährigen Lehre und Praxis der Kirche über die Ehe würde die
Glaubwürdigkeit all dessen, was die Kirche morgen lehren könnte, von vornherein
zerstören.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen