Mittwoch, 16. September 2015

Vorrangige Option für die Familie VI - Sittenlehre und pastorale Praxis


VI. Sittenlehre und pastorale Praxis


33. FRAGE: Man hört immer wieder, die Synode wolle gar nicht die Sittenlehre über die Familie ändern, sondern nur die diesbezügliche Pastoral der Kirche „aktualisieren“. Ist das wahr?

ANTWORT: Einige Bischöfe behaupten, man hätte nicht nur eine „Aktualisierung“ der Pastoral im Blick, sondern wolle auch über Änderungen der Lehre entscheiden.
Diese Sichtweise geht davon aus, dass der überlieferten Lehre heute nicht nur durch die Praxis vieler Gläubiger widersprochen wird – was Tatsache ist –, sondern auch durch die Forderungen der kirchlichen Pastoral, was eine Rechtsfrage aufwirft. Um diesen Widerspruch zu beseitigen, wird vorgeschlagen, das Recht den Tatsachen anzupassen, das heißt, die Sittenlehre zu „vertiefen“, indem man sie den Notwendigkeiten der „neuen Pastoral“ anpasst, die auf die Ergebnisse der „Anhörung“ des Gottesvolks gestützt werden soll.
Was die Kirche allerdings wirklich braucht, ist eine echte Reform, die das Verhalten der Christen wieder zu der Sittenreinheit und doktrinalen Integrität zurückführt, von der man sich abgewendet hat.
Andere Prälaten brachten sogar eine These zum Ausdruck, die man wie folgt zusammenfassen könnte: „Ein sexuelles Verhältnis, das objektiv sündhaft ist, verliert in großem Maß seinen negativen moralischen Charakter, wenn beide Partner dieses Verhältnis auf regulärer Basis beibehalten und gegenseitige Treue zeigen“. Wenn man diesen Fehlschluss auf andere Bereiche ausdehnen wollte, könnte man zum Beispiel sagen: „Wenn zwei Komplizen regelmäßig einen Laden berauben und sich treu ihren gegenseitigen Abmachungen verhalten, vermindert das spürbar den negativen Charakter des Verbrechens“.


34. FRAGE: Auch wenn hier jetzt keine Änderung der Lehre vorgeschlagen wird, sondern nur ein neuer „pastoraler Ansatz“ - ist es überhaupt möglich, die Pastoral zu verändern, ohne dass damit gleichzeitig auch die Lehre beeinflusst wird?

ANTWORT: Ebenso wie der Körper nicht von der Seele, die ihn belebt, getrennt werden kann, kann auch die Pastoral keinesfalls von der Sittenlehre getrennt werden, in der sie ihre Rechtfertigung findet. Daher kann eine Änderung der Pastoral sehr leicht dazu führen, dass dadurch die ihr zu Grunde liegende Lehre — zumindest indirekt — verändert wird.
Außerdem gibt es keine neutralen Praktiken; jede Praxis setzt eine Theorie, eine bestimmte Auffassung der Natur des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte voraus. Der Begriff der Praxis als solcher setzt schon ein Ziel voraus, auf das sie gerichtet sein soll, das heißt, ein Ideal, das es zu verwirklichen gilt. In unserem Fall hat das Konzept einer „pastoralen Praxis“ nur dann Sinn und Wert, wenn es von der wahren Bedeutung von Kirche, Menschlichkeit und Familie ausgeht.
„Die Pastoral ist eine Kunst, die sich auf Dogmatik, Moral, Spiritualität und Recht gründet, um im konkreten Fall klug vorgehen zu können. Es kann keine Pastoral geben, die nicht mit den Glaubenswahrheiten und der Morallehre der Kirche übereinstimmt, die ihren Gesetzen widerspricht oder die nicht auf das Erreichen des christlichen Ideals ausgerichtet ist. Eine Pastoral, die im Gegensatz zur geglaubten und gelebten Wahrheit der Kirche steht (…), wird leicht zu Willkür, die dem christlichen Leben schaden wird“ (Kardinal Velasio de Paolis, In der Wahrheit Christi verbleiben, a.a.O. S. 157-158)
Der Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Disziplin der Sakramente, Kardinal Robert Sarah, erklärte vor kurzem: „Die Idee, das Lehramt in einen schönen Schrein zu legen und es von der pastoralen Praxis zu trennen, die sich nach Gegebenheiten, Moden oder Leidenschaften entwickeln könnte, ist eine Form der Häresie, eine gefährliche pathologische Schizophrenie“ (La Stampa, 24.2.2014)


35. FRAGE: Wenn es schon nicht möglich ist, die Lehre als solche zu ändern, ist es dann wenigstens erlaubt, durch eine neue Pastoral die kirchliche Disziplin über die Familie zu modifizieren?

ANTWORT: Es hängt davon ab, was man unter „Disziplin“ versteht. Häufig bezeichnet dieser Begriff nur ein System von praktischen Regeln, die den Menschen in ihrem Denken und Tun behilflich sein sollen. In diesem Sinn kann sie geändert werden. Es stimmt, dass es in der Katholischen Kirche auf Vereinbarung beruhende und daher abänderbare disziplinarische Konventionen gibt; es gibt aber auch disziplinarische Regeln göttlichen Rechts, wie zum Beispiel die Zehn Gebote, die von der kirchlichen Obrigkeit nicht geändert werden können.
Was die Ehe und Familie betrifft, sind einige der geltenden disziplinarischen Normen göttlichen Ursprungs, bestätigt und vervollständigt durch Jesus Christus selbst und deshalb für die Kirche verbindlich; sie können von niemandem geändert werden, auch nicht vom Papst.
„Es ist jedoch unbedingt zu vermeiden, dass die pastorale Sorge als Gegenposition zum Recht missdeutet wird. Man sollte vielmehr von der Voraussetzung ausgehen, dass der grundlegende Berührungspunkt zwischen Recht und Pastoral die Liebe zur Wahrheit ist“ (Benedikt XVI., Sacramentum Caritatis, Nachsynodales Apostolisches Schreiben vom 22. Februar 2007, Nr. 29).


36. FRAGE: Sollte sich die Kirche in vielen moralischen Fragen nicht der Mentalität und der Praxis der Mehrheit der Gläubigen anpassen, die heute eine größere Flexibilität fordern?

ANTWORT: Die Kirche hat die mütterliche Aufgabe, die Gläubigen zum Heil zu führen, indem sie sie auch in ihrem Familienleben heiligt. Es sind also die Gläubigen, die sich den moralischen Lehren der Kirche anpassen und dadurch in ihrem Leben die von Jesus Christus gepredigten Wahrheiten verwirklichen müssen. Wie der emeritierte Erzbischof von Bologna, Kardinal Giacomo Biffi, richtig zu sagen pflegt, müssen die Hirten, deren Aufgabe es ist, ihre Herde zu weiden und die verlorenen Schafe zurück zur Herde zu bringen, darauf achten, dass sie sich nicht selbst verirren, wenn sie unklugen oder widerspenstigen Schafen nachlaufen.
Die Mehrheitsmeinung der Gläubigen stellt kein Kriterium der theologischen Wahrheitsfindung  und schon gar keine „Quelle der Offenbarung“ dar. Hinzu kommt noch, dass die gegenwärtige öffentliche Meinung, auch die kirchliche, seit langem von Lobbies aus der Kulturszene und den Medien manipuliert wird, die eine radikale antichristliche Revolution betreiben. Der damalige Kardinal Ratzinger hat sich sehr ausführlich über die Ungültigkeit des Kriteriums der Mehrheit in moralischen Fragen geäußert.
„Ein ernstes pastorales Problem besteht darin, schreibt Kardinal Müller, dass manche heute die christliche Ehe ausschließlich anhand weltlicher und pragmatischer Kriterien beurteilen. Wer nach dem ,Geist der Welt‘ (1 Kor 2,12) denkt, kann die sakramentale Natur der Ehe nicht begreifen. Auf dieses wachsende Unverständnis gegenüber der Heiligkeit der Ehe kann die Kirche nicht durch pragmatische Anpassung an das vermeintlich Unausweichliche reagieren; sie muss auf ,den Geist, der aus Gott stammt‘ vertrauen (1 Kor 2,12)“ (Kardinal Gerhard Müller, Präfekt der Glaubenskongregation, Über die Unauflöslichkeit der Ehe und die Debatte in Bezug auf die zivil Wiederverheirateten und die Sakramente, in: In der Wahrheit Christi bleiben: Ehe und Kommunion in der katholischen Kirche, Echter Verlag, Würzburg, 2014, S. 125).


37. FRAGE: Sollte die Kirche nicht  – in Anlehnung an das mosaische Gesetz – für die „bedauerlichen Fälle“ derer, die in einer „unregelmäßigen Situation“ leben, mehr Toleranz zeigen?

ANTWORT: Eine solche Toleranz würde das Gesetz des Evangeliums durch das Gesetz des Moses ersetzen, mit der Gefahr, dass die Gläubigen in die „Hartherzigkeit“ verfallen könnten, durch die Moses gezwungen wurde, dem hebräischen Volk die Ehescheidung zu erlauben.
„Jesus betonte die ursprüngliche Absicht des Schöpfers, dass die Ehe unauflöslich sei. Er hob die Duldungen auf, die sich in das alte Gesetz eingeschlichen hatten“  (vgl. Mt 19, 7-9) (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr.  2382).
Die Kirche wird niemals müde, diese Wahrheit zu lehren und zu bezeugen. Auch wenn sie mütterliches Verständnis für die zahlreichen und komplizierten Krisensituationen, in die die Familien verwickelt sind, sowie auch für die moralische Schwachheit jedes Menschen bekundet, ist die Kirche der Überzeugung, dass sie der Wahrheit über die menschliche Liebe absolut treu bleiben müsse: andernfalls würde sie sich selber verraten“ (hl. Johannes Paul II., Gratissimam sana, Brief an die Familien, vom 2. Februar 1994, Nr. 11).


38. FRAGE: Stimmt es, dass die Toleranz für unregelmäßige Situationen der Ehe in anderen Kirchen oder Religionen positive Ergebnisse gebracht habe?

ANTWORT: Ganz im Gegenteil. In protestantischen Ländern hat diese Methode der Toleranz katastrophale Folgen gezeigt. „Hat diese Toleranz etwa zu einer geistlichen Erneuerung der Kirche von England geführt? Blühen und gedeihen die deutschen Lutheraner? Gibt es einen neuen Frühling für die liberalen Presbyterianer Amerikas? Soziologische Fakten scheinen das Gegenteil zu sagen“, wie die Professoren vom Päpstlichen Institut Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie, Rom festgestellt haben  (vgl. J. J. Perez-Soba und S. Kampowski, a.a.O. S. 38).


39. FRAGE: Es wird behauptet, die Zahl der praktizierenden Gläubigen nehme ab, wenn eine strenge Befolgung gewisser moralischer Vorschriften gefordert wird, wie zum Beispiel eheliche Treue. Wäre es da nicht angebracht die Strenge dieser unpopulären Vorschriften zu lockern?

ANTWORT: Menschen, die in ungeordneten Situationen leben, sind auch selten praktizierende Katholiken. Außerdem fällt die Zahl der Praktizierenden nicht, wenn zur Befolgung gewisser moralischer Vorschriften ermutigt wird; im Gegenteil, sie steigt an, ebenso wie auch die geistlichen Berufungen zunehmen, wenn von den Novizen ein strengeres Engagement verlangt wird.
„Auf der anderen Seite sind die wachsenden Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gerade diejenigen, die sehr anspruchsvolle und der Gegenwartskultur gegenläufige sittliche Anforderungen stellen“ sagt Prof. Kampowski mit Bezug auf das Buch How the West really lost God [Wie der Westen Gott wirklich verloren hat] der amerikanischen Soziologin Mary Eberstadt (J.J. Perez-Soba und S. Kampowski, a.a.O. S. 39)


40. FRAGE: Wäre es in Anbetracht der Tatsache, dass heute viele Katholiken die Moralvorschriften der Kirche nicht mehr befolgen, nicht angebracht, gewisse irreguläre Situationen zu tolerieren, um mehr Menschen zur Kirche zu bringen?

ANTWORT: Die Möglichkeit einer — in der Praxis höchst unwahrscheinlichen — Zunahme der religiösen Praxis bei einigen Personen, die in irregulären — das heißt, unrechtmäßigen und unmoralischen — Situationen leben, darf keinesfalls um den Preis erkauft werden, dass dafür die Moral des Evangeliums und das Lehramt der Kirche verleugnet werden und dadurch der Glaube der treuen und ordentlich lebenden Katholiken geschwächt wird.
Eine Änderung der zweitausendjährigen Lehre und Praxis der Kirche über die Ehe würde die Glaubwürdigkeit all dessen, was die Kirche morgen lehren könnte, von vornherein zerstören.


Fortsetzung: Vorrangige Option für die Familie VII 

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