XII. Die Rolle der
Barmherzigkeit in Familienfragen
93. FRAGE:
Heutzutage herrscht so viel Unwissenheit über die Ehe, ihren Zweck und die
Pflichten, die mit ihr verbunden sind; bedeutet das nicht, dass der Großteil
der heute geschlossenen Ehen als ungültig zu betrachten ist?
ANTWORT:
Die Unwissenheit sollte durch eine gründliche und ernsthafte Vorbereitung auf
die Ehe bekämpft werden, die auch die Lehre der Kirche behandelt. Es ist
wirklich merkwürdig, dass viele, die heute auf Grund der allgemeinen
Unwissenheit eine Lockerung der Sittenlehre der Kirche verlangen, die gleichen
sind, die einst die Lockerung der moralischen Erziehung verteidigt haben, die
gerade zu dieser Unwissenheit geführt hat.
„Die
rechtzeitige Vorbereitung auf die Ehe ist äußerst wichtig, und sie sollte
begonnen werden, bevor junge Menschen das Alter erreicht haben, in dem es in
ihrer jeweiligen Gesellschaft üblich ist, sexuell aktiv werden; in der
westlichen Welt müsste das vor der Teenagerzeit getan werden. (…) Sicherlich
ist die Aufgabe der Kirche, Wunden zu verbinden und zu heilen, aber wie jeder
gute Arzt weiß, ist Prävention die beste Medizin. Jugendliche sind sehr viel
offener dafür, sich mit der Tugend der Keuschheit auseinanderzusetzen, als
allgemein angenommen wird“ (Stephan Kampowski, Ein in der Zeit gelebtes Leben,
in Pérez-Soba und Kampowski, a.a.O., S. 118)
94. FRAGE:
Müsste eine Pastoral, die in erster Linie durch Barmherzigkeit geprägt ist, den
Prozess der Nichtigkeitserklärung der Ehe nicht erleichtern?
ANTWORT:
Nach Meinung des bedeutenden Kirchenrechtlers Kardinal Raymond Leo Burke
garantiert das aktuelle Ehenichtigkeitsverfahren den Parteien volle
Gerechtigkeit, so dass keine Notwendigkeit besteht, seine gegenwärtige Struktur
zu ändern. (vgl. Kardinal Raymond Leo Burke, Das kanonische
Ehenichtigkeitsverfahren als Mittel zur Wahrheitssuche, in In der Wahrheit
Christi bleiben: Ehe und Kommunion in der katholischen Kirche, Echter Verlag,
Würzburg, 2014, Kap.9).
Natürlich
besteht die pastorale Lösung in erster Linie darin, sicherzustellen, dass die
Ehen in bewusster und gültiger Form geschlossen werden und eventuelle
Ehenichtigkeitsverfahren für alle, auch für die weniger gebildeten Schichten,
zugänglich gemacht werden. Es ist aber nicht ratsam, die Gültigkeit vieler Ehen
in Frage zu stellen, um eine kleine Minderheit von wiederverheirateten
Geschiedenen zufrieden zu stellen, die die Kommunion empfangen wollen, ohne
ihren Status zu ändern.
„Liebe ohne
Gerechtigkeit ist keine Liebe, sondern nur eine Fälschung, weil die Liebe
selbst jene Objektivität verlangt, die typisch ist für die Gerechtigkeit und
die nicht mit unmenschlicher Kälte verwechselt werden darf. Diesbezüglich gilt,
was mein ehrwürdiger Vorgänger, Johannes Paul II., in seiner feierlichen
Ansprache über die Beziehungen zwischen Pastoral und Recht festgestellt hat:
,Der Richter muss sich daher immer vor der Gefahr hüten, falsch verstandenes
Mitleid zu üben, das in Sentimentalität versinken würde und nur scheinbar
pastoral wäre‘(18. Januar 1990, in O.R. dt., Nr. 5, 2.2.1990, S. 10, Nr. 5).
Wir müssen pseudopastorale Ausflüchte vermeiden, die diese Fragen auf einer
rein horizontalen Ebene ansiedeln, auf der es darum geht, subjektive
Forderungen zufrieden zu stellen, um um jeden Preis eine Erklärung der
Nichtigkeit zu erreichen – unter anderem zu dem Zweck, Hindernisse auszuräumen,
die dem Empfang des Sakraments der Buße und der Eucharistie im Wege stehen. Das
hohe Gut der Wiederzulassung zur eucharistischen Kommunion nach der
sakramentalen Versöhnung erfordert dagegen, das wahre Wohl der Personen im Auge
zu haben, das untrennbar mit der Wahrheit ihrer kirchenrechtlichen Situation verbunden
ist. Es wäre ein fiktives Wohl und ein schwerwiegender Mangel an Gerechtigkeit
und Liebe, wenn man ihnen dennoch den Weg zum Empfang der Sakramente ebnen
würde. Und es würde auch die Gefahr bergen, diese Menschen in objektivem
Gegensatz zur Wahrheit ihrer persönlichen Situation leben zu lassen.“ (Benedikt
XVI., Ansprache an die Mitglieder des Gerichtshofs der Römischen Rota am 29.
Januar 2010).
Fortsetzung: Vorrangige Option für die Familie XIII
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