Freitag, 30. Oktober 2020

Papst Franziskus’ Albtraum von einer Welt ohne Grenzen

von John Horvat



Die dritte Enzyklika von Papst Franziskus, Fratelli Tutti, befasst sich vorhersehbar mit der Notlage der Migranten. Dieses Thema hat sein Pontifikat geprägt, da er nie die Gelegenheit verliert, es aufzugreifen. Nicht alle teilen seine Begeisterung; die meisten sind besorgt darüber, was es für die Zukunft bedeutet.

Massenmigration ist für viele Katholiken im Westen ein heikles Thema. Die Europäische Union ist beispielsweise in einen demografischen und kulturellen Selbstmord verwickelt. Während Europa verhütet und sich zu Tode abtreibt, sieht es sich auch feindlichen Migranten gegenüber, die die Identität und das Wohlergehen der Mitgliedsstaaten bedrohen. Uneingeschränkte Migration bedeutet somit den Tod christlicher Kulturen, die durch belastende Regierungsprogramme ersetzt werden, die alles für alle Völker sein sollen.

Für Amerika bestehen ähnliche Bedenken. Eine Welt ohne Grenzen würde die Fähigkeit der Nation überwältigen, sich um Hunderte von Millionen zu kümmern, die nach neuen Möglichkeiten suchen.

Ein falsches Verständnis des universellen Ziels von geschaffenen Gütern

Inmitten dieser weit verbreiteten Besorgnis hilft die Enzyklika des Papstes, in der alle zu Brüdern erklärt werden, nicht weiter. Während der christliche Westen großzügig Flüchtlinge, verfolgte Minderheiten und bedürftige Völker aufgenommen hat, ist es schwer zu akzeptieren, dass jeder bei der Verfolgung seines „Traums von einer besseren Zukunft“ ein durchsetzbares Recht auf uneingeschränkte Einreise in einem Land hat. Diese Schlussfolgerung ist jedoch Teil der Botschaft der Enzyklika.

„Die soziale Rolle des Eigentums im Auge behalten“, meint Papst Franziskus, ist der Schlüssel zur Beseitigung der Weltgrenzen.

Traditionell bedeutete diese soziale Rolle nicht, dass alles Eigentum an diejenigen verteilt werden muss, die behaupten, bedürftig zu sein. Vielmehr ist die ordnungsgemäße Verwendung von Privateigentum in der Produktion von größter Bedeutung. Prof. Plinio Corrêa de Oliveira bekräftigt: „Privateigentum und freies Unternehmertum sind bei der Ausweitung der Produktion unersetzlich. Diese Ausweitung zu verfolgen, ist ihre wichtigste soziale Rolle“ („Função Social“, O Jornal, 30. September 1972).

Papst Franziskus fordert jedoch eine „Überarbeitung“, damit die soziale Rolle des Privateigentums nun dazu beiträgt, dass jeder „ausreichende Möglichkeiten für seine integrale Entwicklung“ erhält.

Franziskus erinnert an das Prinzip der „universalen Bestimmung der geschaffenen Güter“. Das traditionelle Verständnis dieses Prinzips leugnet jedoch nicht das Privateigentum. Es untermauert es vielmehr, wie Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika Rerum Novarum lehrt: „Die Tatsache, dass Gott die Erde für den Gebrauch und den Genuss der gesamten Menschheit gegeben hat, kann in keiner Weise ein Hindernis für den Besitz von Privateigentum sein. Gott hat die Erde der Menschheit im Allgemeinen geschenkt, nicht in dem Sinne, dass alle ohne Unterschied damit umgehen können, wie sie wollen, sondern dass kein Teil davon jemandem im Besonderen zugewiesen wurde und dass die Grenzen des privaten Besitzes verlassen wurden durch die eigene Industrie des Menschen und durch die Gesetze der einzelnen Rassen festgelegt werden “ (Nr. 8).

Eigentum neu ins Auge fassen: Ein Sprungbrett zur Aufhebung von Grenzen

Fratelli Tutti verwendet die von Papst Leo XIII. abgelehnte Bedeutung, um ein Sprungbrett für eine ungehinderte Einwanderungspolitik zu schaffen. Der argentinische Papst sagt, wenn alle geschaffenen Güter jedem gehören, dann „können wir sagen, dass jedes Land auch dem Ausländer gehört, insofern die Güter eines Territoriums nicht einer bedürftigen Person verweigert werden dürfen, die von einem anderen Ort kommt.“

Er erklärt weiter: „Wenn alle Menschen meine Brüder und Schwestern sind und die Welt wirklich jedem gehört, ist es unerheblich, ob mein Nachbar in meinem Land oder anderswo geboren wurde. Mein eigenes Land trägt auch die Verantwortung für seine Entwicklung.“

Solche schockierenden Verweigerungen der nationalen Souveränität passen zum internationalistischen Rahmen des Traumes des Papstes für die Welt. Die Vereinten Nationen werden zum Instrument zur Umsetzung dieser grenzenlosen Welt. Der Papst fordert, die Weltorganisation mit Exekutivbefugnissen und „Zähnen“ auszustatten, um Sanktionen zu verhängen und Richtlinien durchzusetzen.

Lösungen durch gesunden Menschenverstand

Solche Vorschläge sind angesichts der langen Geschichte der kirchlichen Hilfe für Flüchtlinge und Einwanderer verwirrend. Die Kirche hat immer gelehrt, dass der Fremde immer mit Nächstenliebe, Höflichkeit und Respekt behandelt werden muss. Die Bibel sagt: „Du sollst keinen Fremden belästigen“ (2. Mose 22: 9). Niemand bestreitet die Notwendigkeit, denjenigen zu helfen, die durch eine Nation ziehen, insbesondere auf der Flucht vor Verfolgung und Ungerechtigkeit.

Die Kirche bestreitet ebenfalls nicht das Auswanderungsrecht, da die Welt tatsächlich für alle geschaffen wurde. Der hl. Thomas von Aquin unterscheidet jedoch zwischen friedlichen und feindlichen Migrationen (I-II, Q. 105, Art. 3). Keine Nation ist verpflichtet, diejenigen zu akzeptieren, die aggressiv sind und ihren Bürgern Schaden zufügen möchten. Die Länder dürfen sich auch nicht zum Nachteil ihrer Bürger von Einwanderern überwältigen lassen.

Einwanderer müssen den Gesetzen des Gastlandes entsprechen. Migranten brauchen Zeit, um sich in die lokale Bevölkerung zu integrieren. Der hl. Thomas warnt vor der Gewährung der sofortigen Staatsbürgerschaft (was die Enzyklika fördert). Er behauptet, dass die Verzögerung der Staatsbürgerschaft eine Frage der Gerechtigkeit ist, da die Neuankömmlinge mit den Angelegenheiten der Nation nicht vertraut sein werden. Er warnt davor, dass „Ausländer, die das Gemeinwohl noch nicht fest im Herzen haben, versuchen könnten, etwas zu tun, das den Menschen schadet.“

Eine Welt-Heimat ohne Grenzen

Es ist also nichts Neues, die Gläubigen zu bitten, Einwanderer gut zu behandeln und sie sogar in ihren Gemeinden willkommen zu heißen. Die Enzyklika führt jedoch in die Irre, wenn sie ein universales Heimatland fordert, in dem alle ihre Utopien nachgehen können. In diesen gefährlichen Zeiten des Terrorismus geht der Papst von allgemeinem Wohlwollen aus, damit alle willkommen sind. Eine solche Politik ignoriert die Realität und die begründeten Bedenken hinsichtlich des gewalttätigen Verhaltens derer, die diese sündige Welt so terrorisiert haben.

Der Papst erweitert diese einladende „Begegnung“ noch weiter, indem er ein „neues Netzwerk internationaler Beziehungen“ vorschlägt, um „das Grundrecht der Völker auf Lebensunterhalt und Fortschritt“ zu gewährleisten. Er stellt sich eine „Ethik der internationalen Beziehungen“ vor, die auf die Gleichstellung der Nationen abzielt. Der Handel wird auch erwähnt, da die Leser gebeten werden, „eine andere Art des Verständnisses der Beziehungen und des Austauschs zwischen Ländern“ in Betracht zu ziehen.

Unrealistisch wild

Papst Franziskus räumt Sogar ein, dass diese „Vorstellung einer neuen Menschheit“ „unrealistisch wild klingen kann“. Man könnte erwarten, dass er die Gläubigen bittet, sich an Gott zu wenden, für den alle Dinge möglich sind.

Die Botschaft der Enzyklika richtet sich jedoch nicht einmal an die katholischen Gläubigen. Es spricht „eine einzige menschliche Familie“ an, in der „alle Menschen guten Willens“ zum Dialog eingeladen sind. Somit wird die Diskussion auf den kleinstmöglichen Nenner reduziert, so dass alle teilnehmen können und keiner beleidigt oder ausgeschlossen wird. Als der Papst seine utopische Migrationsvision abschloss, forderte er die Menschen auf, sich „auf der Grundlage einer globalen Ethik der Solidarität und Zusammenarbeit im Dienste einer Zukunft zu vereinen, die von gegenseitiger Abhängigkeit und gemeinsamer Verantwortung in der gesamten menschlichen Familie geprägt ist“.

Das Ergebnis ist ein platter und weltlicher Appell an eine Brüderlichkeit, die nicht in unserem Herrn Jesus Christus und dem katholischen Glauben verwurzelt ist. Es inspiriert niemanden. Die Enzyklika weicht nicht nur vom traditionellen katholischen Lehramt ab, sondern ist auch „wild unrealistisch“.

 

Aus dem Englischen mit Hilfe von Google-Übersetzer in

https://www.tfp.org/pope-franciss-nightmare-of-a-world-without-borders/

vom 14. Oktober 2020. Eingesehen am 20.10.2020


© Nachdruck der deutschen Fassung dieses Beitrags ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.

Dieser Beitrag erschien in deutscher Sprache zuerst im Blog Revolution und Gegenrevolution.

Dienstag, 27. Oktober 2020

Anbetung der Geschöpfe, statt des Schöpfers

Mutter-Erde-Kult in den Vatikanischen Gärten (2019)

Als nun die neue Wissenschaft mit ihrem linearen und mechanistischen Weltbild all diese natürliche Schönheit zu zerstören drohte und hierauf die Künstler mit einer Rückkehr zu den großen Kreisläufen der Natur reagierten, wuchsen allerdings die Schwierigkeiten, die Sonderstellung des Menschen in der Welt noch angemessen zu würdigen. Das wurde in Kauf genommen. Daß in der heutigen ökologischen Bewegung die Sonderstellung des Menschen gegenüber der Natur übersehen wird, macht den Kern ihres Romantizismus aus. Wieder verkehrt sich, was eigentlich ganz unschuldig begann, - nämlich das Aufmerksamwerden der Wissenschaft auf die Übernutzung unseres Planeten und der Wunsch, den eingespielten Prozeß verschwenderischen Mißbrauchs aufzuhalten und umzukehren, - zu einer neuen Religion. Die Mutter Erde, Gaia, wurde zur neuen Gottheit. Das Heil liegt in der unberührten Natur. Nicht im überlieferten Glauben und der Bibel, sondern im Kosmos, nicht in angeblich überholten Liturgien und Bankrotten Kirchen, sondern allein in der Natur, könne man Gott unmittelbar begegnen. Eigentlich sei Gott in uns. Unsere Erfahrungen und Gefühle, das sei Gott. Wir suchen Gott nicht in einer Kirche, sondern in unseren Genen.

Genau diese Verwechselung der Welt mit dem Herrn der Welt, diese Anbetung der Geschöpfe statt des Schöpfers, war der erste Sündenfall. Jeder Christ oder Jude, sollte man meinen, müßte sofort hellhörig werden und es bemerken. Statt dessen habe ich noch die Rede eines Pfarrers im Ohr, der – als vielumworbener Redner und Autor in Sachen Umwelt, der auf jeder ökologischen Weltkonferenz anzutreffen ist – einem hochkarätigen Publikum genau diese Verwechslung von Gott und Natur eintrichterte.

Die altneue Mutter-Erde-Religion wird von der feministischen Theorie gestützt, nach der die Welt einstmals Priesterinnen im Dienst weiblicher Gottheiten regiert worden sei. Aggressive Nord- und Bergvölker hätten dieses goldene Zeitalter dann zum Einsturz gebracht und ihre Männer- und Himmelsgötter Zeus und Yahwe an die Stelle der friedvollen Göttinnen gesetzt. So seien die Geringschätzung der Natur und die kriegslüsternen imperialistischen Kulturen in die Welt gekommen, die seitdem die Geschichte beherrscht hätten. Um diese Entwicklung zu korrigieren, drängen feministische Theolog(innen)en auf eine Rückkehr zum Kult der Mutter-Erde-Gottheiten.

Auch sei eine neue Prüfung der alten Heilpraktiken fällig, die die Christen als Hexerei verworfen und verdammt hätten. Warum haben die Christen sie Verdammt? Weil sie der Lehre Christi und der Apostel zuwiderlaufen? Weil sie insgeheim die etablierte Moral und den Glauben gefährden? Oder weil die alten Männer, die in der Kirche das Sagen haben, Angst haben, daß ihnen die Dinge aus dem Ruder laufen! Derartige Erklärungen sind so oft vorgebracht worden, daß sie heute in jedem Hörsaal widerspruchslos hingenommen werden.

 

Quelle: Michael Müller – aus seinem Buch: „Stets war es der Hund, der starb . . .“ - MM Verlag – Aachen, 2. Aulage 1999. Beitrag von William Park: „Lichtscheue Ideen“, S. 55ff.

 

Dienstag, 13. Oktober 2020

Fratelli tutti: Ein naturalistischer kleinster gemeinsamer Nenner (*)...

 ...als Programm für eine orientierungslose Menschheit


von José Antonio Ureta

Fratelli Tutti (Omnes Fratres / Alle Brüder) scheint keine Enzyklika zu sein, sondern die Fortsetzung des Dialogs, den Franziskus seit Beginn seines Pontifikats mit Agnostikern wie Eugenio Scalfari, Dominique Wolton oder Carlo Petrini geführt hat, um sie davon zu überzeugen, dass die katholische Kirche mit der atheistischen Moderne vereinbar ist.

Die Enzykliken der früheren Päpste haben aus den ewigen Wahrheiten der göttlichen Offenbarung die Lehren entnommen, die auf die konkrete Situation und insbesondere auf Krisen der kirchlichen oder zeitlichen Konjunktur anwendbar waren. Anders schlägt Franziskus Raum für „Überlegungen zur Geschwisterlichkeit aller Menschen“ zahllose ausschließlich menschlicher Analysen als Hauptnenner vor: Martin Luther King, Desmond Tutu, Mahatma Ghandi und viele andere (Nr. 286), die trotz religiöser oder philosophischer Unterschiede für alle akzeptabel sind, da sich dieses Schreiben „an alle Menschen guten Willens, jenseits ihrer religiösen Überzeugungen richtet“ (Nr. 56).

Diese Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner mit dem Agnostizismus zeigt sich in der Passage der Enzyklika unter „Der Konsens und die Wahrheit“, in der Franziskus betont, dass die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen „eine Wahrheit ist, die der menschlichen Natur entspricht jenseits jeder kulturellen Veränderung“ und fügt hinzu: „Agnostikern mag diese Grundlage ausreichend erscheinen, um den nicht verhandelbaren ethischen Grundprinzipien eine starke und beständige universelle Gültigkeit zu verleihen, um weitere Katastrophen zu verhindern. Für Gläubige ist die menschliche Natur als Quelle ethischer Prinzipien von Gott geschaffen, der diesen Prinzipien letztlich eine feste Grundlage verleiht.“ Um den Verdacht eines religiösen Proselytismus zu vermeiden, stellt er klar, dass „dies weder einen ethischen Kreationismus begründet, noch zwingt es irgendein Moralsystem auf, da universell gültige sittliche Grundprinzipien zu unterschiedlichen praktischen Normen führen können. Deshalb bleibt immer ein Raum für den Dialog“ (Nr. 214).

Aus dieser Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner mi dem Agnostizismus geht auch hervor, dass in dieser Enzyklika, die reichlich selbstreferenziell ist (170 Zitate eigener Quellen, 43 seiner Vorgänger, nur 20 von Kirchenvätern und Kirchenlehrern), das Fehlen von Voraussetzungen und sogar Überlegungen übernatürlicher Natur und speziell christlich-religiöse Überlegungen sehr auffällig ist. Fratelli Tutti ist in einer klaren naturalistischen und interreligiösen Sprache geschrieben. Es wird praktisch ausgelassen die übernatürliche Berufung des Menschen, die durch die Sünde in die Welt eingebrachte Wunde, die Notwendigkeit der Erlösung in Christus, die Heilsrolle der Kirche, die göttliche Gnade als Voraussetzung für individuelle Vollkommenheit und sozialen Fortschritt sowie das Naturgesetz als Grundlage der internationalen Ordnung, die die Grundlage der Ermahnungen früherer Päpste waren.

Naturalismus und Interkonfessionalismus zeigen sich besonders in der Grundidee der Enzyklika, dem „neuen Traum von der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft“ (Nr. 6) und dem daraus resultierenden „weltweiten Streben nach Geschwisterlichkeit“ (Nr. 8) das Franziskus „zum Leben erwecken“ möchte, ausgehend von der Anerkennung der Würde eines jeden Menschen ohne jeglichen Bezug zu Gott, abgesehen von einer kurzen Erwähnung der Überzeugung der Gläubigen, ist dies, was den ungewöhnlichen Ton des Dokuments hervorhebt: „Als Gläubige sind wir davon überzeugt, dass es ohne eine Offenheit gegenüber dem Vater aller keine soliden und beständigen Gründe für den Aufruf zur Geschwisterlichkeit geben kann“ (Nr. 272).

Selbst das Gleichnis vom barmherzigen Samariter wird in einem rein humanistischen Schlüssel interpretiert: Die Erzählung zeigt uns laut dem Papst „eine oft vergessene wesentliche Charakteristik des menschlichen Seins: Wir sind für die Fülle geschaffen, die man nur in der Liebe erlangt“ (Nr. 68). „Jesus vertraut auf die bessere Seite des menschlichen Geistes und ermutigt ihn mit dem Gleichnis, sich an die Liebe zu halten, den Leidenden wieder einzugliedern und eine Gesellschaft aufzubauen, die dieses Namens würdig ist“ (Nr. 71). Der weltliche Charakter dieser Liebe wird durch die Überlegung betont: „ein gläubiger Mensch kann sich Gott nahe fühlen und sich für würdiger als die anderen halten“, während „paradoxerweise können diejenigen, die sich für ungläubige halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Glaubenden“ (Nr. 74).

Diese Nächstenliebe leitet sich nicht unbedingt aus der Liebe Gottes ab. Das Wort „Nächstenliebe“ (carità) wird in der Enzyklika 33 Mal verwendet, aber es wird nie mit der „Freundschaft des Menschen gegenüber Gott“ in Verbindung gebracht, aus der es im Wesentlichen besteht (hl. Thomas von Aquin, Summa, II-II, Q. 23, a. 1, resp.), woraus sich ergibt, dass „der Grund den nächsten zu lieben, Gott ist“ (ebd. Q.25, a.1, resp.). Das Weglassen des hauptsächlich vertikalen Charakters der Nächstenliebe führt sogar zur Behauptung, dass, um die „Ausdrucksform der verschiedenen moralischer Tugenden“ (wie Tapferkeit, Nüchternheit, Fleiß usw.) „richtig zu lenken, ist auch zu bedenken, inwieweit sie eine Dynamik der Offenheit und Einheit mit anderen Menschen bewirken“ (Nr. 91), die Liebe zu Gott wird verschwiegen.

Nach dem Gesagten scheint Fratelli Tutti weitgehend unter das kritische Urteil zu fallen, das der hl. Papst Pius X. in der Enzyklika Notre Charge Apostolique über die Schriften der Le Sillon-Bewegung gefällt hat, wo er schreibt, dass diese Bewegung eine nicht-katholische Auffassung der Nächstenliebe fördere:

„Dieselbe katholische Lehre lehrt uns auch, dass die Quelle der Nächstenliebe sich in der Liebe zu Gott befindet, dem gemeinsamen Vater und gemeinsamen Ziel der gesamten Menschheitsfamilie; und in der Liebe zu Jesus Christus, dessen Glieder wir in einer Weise sind, dass die Hilfe für einen Unglücklichen eine Jesus Christus selbst erwiesene Wohltat ist. Jede andere Liebe ist eine Illusion oder ein unfruchtbares, vergängliches Gefühl. Die menschliche Erfahrung beweist es wahrlich, dass in den heidnischen und laizistischen Gesellschaften aller Zeiten, unter gewissen Unständen die Rücksicht auf die allgemeinen Interessen oder auf die gleiche Menschennatur sehr wenig Gewicht hat gegenüber den ungeordneten Leidenschaften und Begierden des Herzens. Nein, ehrwürdige Brüder, es gibt keine wahre Brüderlichkeit außerhalb der christlichen Liebe, die aus Liebe zu Gott und seinem Sohn Jesus Christus, unserem Erlöser, alle Menschen umfasst: um allen beizustehen und alle zum selben Glauben und zum selben Glück des Himmels zu führen. Wenn die Demokratie die Brüderlichkeit von der so verstandenen christlichen Liebe trennt, so bedeutet sie keinen Fortschritt, sondern schafft einen unheilvollen Rückgang der Zivilisation.“ (Nr. 24, die Hervorhebungen sind von mir).

Die Worte des hl. Pius X. geben das notwendige Licht, um einen weiteren Aspekt der jüngsten Enzyklika von Franziskus hervorzuheben: die relativistische Synthese der Koexistenz von Gegensätzen, die durch Dialog als Unterstützung für universale Brüderlichkeit und soziale Freundschaft dienen muss. Das Vorbild einer „Kultur der Begegnung“ (6-Mal im Text erwähnt) und des „Dialogs“ (46-Mal erwähnt) wäre der hl. Franziskus, der „keine Wortgefechte führte, um seine Lehren aufzudrängen“, doch „er war ein wirklich liebevoller Vater, der es auf sich nimmt auf andere Menschen in ihrer Bewegung zuzugehen, nicht um sie zu vereinnahmen, sondern um ihnen zu helfen, mehr sie selbst zu werden“ (Nr. 4).

Heute, im Gegenteil, „herrscht der Brauch, den Gegner schnell zu diskreditieren und mit demütigenden Schimpfwörtern zu versehen, anstatt sich einem offenen und respektvollen Dialog zu stellen, bei dem man eine Synthese sucht, die weiterführt“ (Nr. 201). Tatsächlich müssen wir daran denken, dass „Unterschiede kreativ sind, sie erzeugen Spannungen und in der Auflösung einer Spannung liegt der Fortschritt der Menschheit“ (Nr. 203).

Für Papst Franziskus wäre dies kein Relativismus, solange eine objektive Wahrheit weiterhin gültig bleibt: dass jeder Mensch heilig ist (Nr. 207), aus dem hervorgeht, dass die Menschenrechte unantastbar sind (Nr. 209) und ein dauerhafter, transzendenter und nicht verhandelbarer Wert. (Nr. 211 und 273). Im Übrigen ist das, „was wir ,Wahrheit‘ nennen“ (die Anführungszeichen stammen aus der Enzyklika) „vor allem die Suche nach den stabilsten Grundlagen für unsere Entscheidungen und auch für unsere Gesetze“ (Nr. 208), also „in einer pluralistischen Gesellschaft ist der Dialog der beste Weg, zur Anerkennung dessen, was stets bejaht und respektiert werden muss und was über die umstandsbedingten Konsens hinausgeht“ (Nr. 211). Von dort aus entsteht „eine Kultur der Begegnung“, die „ein Lebensstil ist, der eine Polyederbildung mit vielen Facetten und sehr vielen Seiten, die aber zusammen alle eine nuancenreiche Einheit bilden“, „eine Gesellschaft, in der Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen“ (Nr. 215). Dazu sind nötig einerseits „die Fähigkeit, dem Nächsten das Recht zuzugestehen, er selbst zu sein und anders zu sein“ (Nr. 218) und andererseits „ein Kulturpakt“, der die Annahme der Möglichkeit beinhaltet, zum Gemeinwohl auf etwas zu verzichten.

„Niemand wird die ganze Wahrheit besitzen oder alle seine Wünsche erfüllen können. Ein solcher Anspruch würde nämlich dazu führen, den anderen zu zerstören, indem man ihm seine Rechte verweigert“ (Nr. 221). Es geht um den Realismus des Dialogs „derer, die überzeugt sind, ihren Prinzipien treu bleiben zu müssen, gleichzeitig aber anerkennen, dass der andere ebenso das Recht hat, zu versuchen, seinen eigenen Prinzipien treu zu sein“ (idem) und es uns ermöglicht, gemeinsam zu träumen „als eine einzige Menschheit zu träumen, als Weggefährten vom gleichen menschlichen Fleisch, als Kinder der gleichen Erde, die uns alle beherbergt, jeder mit dem Reichtum seines Glaubens oder seiner Überzeugung, jeder mit seiner eigenen Stimme, alles Geschwister“ (Nr. 8).

Für Franziskus ist dies weder Synkretismus noch Absorption des einen im anderen, „sondern es geht um eine Lösung auf einer höheren Ebene, welche die wertvollen innewohnenden Möglichkeiten und die Polaritäten im Streit beibehält“ (Nr. 245), was eine besondere Form der Hegelschen Dialektik zu sein scheint, in der die Synthese als ein unerreichbarer Horizont verbleibt.

Es ist leicht zu erkennen, dass all dies nicht mit dem harmoniert, was der hl. Papst Pius X. lehrte, als er die Le Sillon-Bewegung wegen Abkehr von der katholischen Lehre verurteilte: „Genauso steht es um den Begriff der Brüderlichkeit, die sie in der Liebe zu den gemeinsamen Interessen begründen oder, über alle Weltanschauungen und alle Religionen hinweg, einfach im Begriff der Humanität, wobei sie mit gleicher Liebe und gleicher Toleranz alle Menschen mit allen ihren Nöten umfassen, den geistigen und moralischen ebenso, wie den körperlichen und irdischen. Die katholische Lehre zeigt uns aber, dass die erste Pflicht der Nächstenliebe nicht in der Toleranz gegenüber irrigen Überzeugungen, so aufrichtig dieselben auch sein mögen, besteht; auch nicht in der theoretischen oder praktischen Indifferenz gegenüber dem Irrtum und dem Laster, wohin wir unsere Brüder gestürzt sehen: sondern sie besteht in dem Eifer, sie geistig und moralisch zu bessern, nicht weniger, als in der Sorge für ihr materielles Wohlergehen.“(24, die Hervorhebungen sind von mir).

Der Ton des philosophischen Relativismus und des religiösen Interkonfessionalismus von Fratelli Tutti erstreckt sich gleichermaßen auf die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und anderen Religionen. „Ausgehend von der Wertschätzung jeden Menschen als Geschöpf mit Berufung zur Gotteskindschaft, leisten die verschiedenen Religionen einen wertvollen Beitrag zum Aufbau von Geschwisterlichkeit und zur Verteidigung der Gerechtigkeit in der Gesellschaft“ (Nr. 271). In dieser Hinsicht wären alle Religionen gleich: „Aus unserer Glaubenserfahrung und aus der Weisheit, die sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hat, aber auch dank des Lernens aus unseren vielen Schwächen und Stürzen wissen wir Gläubige verschiedener Religionen, dass es für unsere Gesellschaften gut ist, wenn wir Gott in ihnen gegenwärtig machen.“ (Nr. 274).

Die Bibel fällt ebenfalls in diese Gleichung, denn für Franziskus können alle „klassischen religiösen Texte für alle Zeiten von Bedeutung sein, und eine motivierende Kraft besitzen, die immer neue Horizonte öffnet, das Denken anregt, den Geist weitet und das Feingefühl erhöht“ (Nr. 275). Und weiter fügt er hinzu: „Andere nähren sich aus anderen Quellen. Für uns liegt die Quelle der Menschenwürde und Geschwisterlichkeit im Evangelium Jesu Christi“(Nr. 277).

Darüber hinaus hat Gott keine bevorzugte Option für die Getauften im Allgemeinen (die die einzigen wahren Kinder Gottes sind) oder für die katholischen Gläubigen, Glieder seines mystischen Leibes im Besonderen, sondern „Gottes Liebe ist für jeden Menschen gleich, unabhängig von seiner Religion. Und wenn er Atheist ist, ist es die gleiche Liebe“ (Nr. 281).

Aus diesen religiösen und philosophischen Voraussetzungen - auf der Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner für alle Menschen, wie wir zu Beginn sagten - zieht die Enzyklika Fratelli Tutti hauptsächlich zwei praktische Konsequenzen, die zu einem Unwohlsein führen, wenn sie nicht eine noch größere Bresche öffnen, zwischen Papst Franziskus und einem großen Teil der katholischen Gläubigen: Es geht um die Förderung der Einwanderung als Voraussetzung für eine offene Gesellschaft und eine Weltregierung zur Lösung globaler Probleme.

Für Franziskus ist „Liebe, die über alle Grenzen hinausreicht, die Grundlage dessen, was wir in jeder Stadt und in jedem Land ,soziale Freundschaft‘ nennen“, eine Bedingung für „wirklicher universaler Offenheit“ (Nr. 99). Sein Universalismus ist nicht mit einer Globalisierung zu verwechseln, die „eine homogenen, einheitlichen und standardisierten Domäne einer einzigen vorherrschenden Kulturform“ fördert (Nr. 144), sondern eine facettenreiche Gesellschaft (Polyeder) aufbaut, in der „zwar jeder einzelne Teil in seinem Wert respektiert wird, und zugleich das Ganze mehr ist als die Teile, und auch mehr als ihre bloße Summe“ (Nr. 145). Wie im Fall des Dialogs steht für den Papst „eine gesunde Offenheit nie im Gegensatz zur eigenen Identität“, weil „eine lebendige Kultur, die sich um neue Elemente fremder Herkunft bereichert, wird diese nie einfach kopieren oder wiederholen, sondern sie wird sich das Neue auf ihre Art und Weise zu eigen machen. Dies führt zur Entstehung einer neuen Synthese, die letztlich allen zugute kommt“ (Nr. 148).

Deshalb müssen wir „eine offene Welt denken und schaffen“ (dies ist der Titel des Dritten Kapitels der Enzyklika), in der „Rechte ohne Grenzen“ in Kraft sind (es ist der Untertitel eines Abschnitts), da „niemand aufgrund seiner Herkunft ausgeschlossen werden darf“ unabhängig davon, wo er geboren wurde, „und schon gar nicht aufgrund der Privilegien anderer, die unter günstigeren Umständen aufgewachsen sind“. „Auch die Grenzen und Grenzverläufe von  Staaten können das nicht verhindern“ (Nr. 121). Da die universelle Bestimmung der Güter der Erde nicht nur das Privateigentum mit einer sozialen Funktion belastet – „wenn sich jemand etwas aneignet, dann nur, um es zum Wohl aller zu verwalten“ (Nr. 122) -, sondern bedingt auch die Souveränität der Nationen über ihr eigenes Territorium, da „jedes Land auch ein Land des Ausländer ist, denn die Güter eines Territoriums dürfen einer bedürftigen Person, die von einem anderen Ort kommt, nicht vorenthalten werden“ (Nr. 124).

In Wirklichkeit müssen die Güter dieses Landes nicht nur den Bedürftigen zur Verfügung stehen, denn „es ist unsere Pflicht, das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seine Grundbedürfnisse und denen seiner Familie nachkommen, sondern auch als Person voll verwirklichen kann“ (Nr.129). Dies würde bedeuten, dass jeder, der sich als neuen Picasso oder neuen Einstein betrachtet, das Recht haben würde, nach Paris oder Massachusetts zu ziehen, um seine künstlerischen oder wissenschaftlichen Talente an der Écôle des Beau Arts oder am MIT (Massachusetts Institute of Technology) voll zu entfalten.

Wenn viele einfach auswandern, um eine bessere Zukunft zu suchen, als sie es in ihrer Heimat tun können, kümmert sich Papst Franziskus in dieser Enzyklika - anders als er es manchmal gesagt hat, wenn auch nur kurz - nicht um das Recht jedes Landes, das Migrationsphänomen entsprechend zu regulieren nach den jeweiligen Möglichkeiten, sondern beschränkt sich darauf zu sagen, dass „die Ankunft verschiedener Menschen, die aus einem anderen Lebenskontexten und kulturellen Zusammenhänge kommen, zu einer Chance wird“ und „eine Chance zur Bereicherung und Förderung der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung aller“ ( Nr. 133). Und er besteht darauf: „Einwanderer sind, wenn man ihnen bei der Integration hilft, ein Segen, ein Reichtum und ein neues Geschenk, das eine Gesellschaft einlädt sich weiterzuentwickeln“ (Nr. 135).

Es gibt keinen Hinweis auf das Risiko einer massiven und destabilisierenden Einwanderung, wie dies derzeit in Europa der Fall ist, wo eine starke muslimische Komponente sich weigert, sich zu integrieren, so dass Präsident Macron eine Initiative gegen den „islamischen Separatismus“ in den städtischen Peripherien starten musste, wo nicht einmal die Polizei eintreten kann...

Franziskus hingegen hält es für notwendig, das Risiko von „lokalen Narzissmus“ hervorzuheben, hinter dem sich „ein verschlossener Geist verbirgt, der aus einer gewissen Unsicherheit und Furcht vor dem anderen lieber Mauern errichtet, um sich zu schützen“ und „ein solch unguter Lokalpatriotismus ist zwanghaft auf einige wenige Ideen, Bräuche und Gewissheiten beschränkt“ (Nr. 146). Das lokale Leben „wird unbeweglich und krank“ (idem), da „andere konstitutiv notwendig sind für den Aufbau eines erfüllten Lebens“ (Nr. 150).

Daher sind Migrationen nicht nur an sich gut, sondern „werden ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen“ (Nr. 40). Die Gesundheitskrise von Covid-19 wiederum ist die großartige Gelegenheit, aus der „egoistischen Selbsterhaltung“ herauszukommen: „Gott gebe es, dass es am Ende nicht mehr „die Anderen“, sondern nur ein „Wir“ gibt, „so wird die Menschheit mit all ihren Gesichtern, all ihren Händen und all ihren Stimmen wiedererstehen über die von uns geschaffenen Grenzen hinaus“ (Nr. 35), weil, „wie es um die verschiedene Länder der Welt bestellt ist, lässt sich an die Fähigkeit abmessen, nicht nur an das eigene Land, sondern an die ganze Menschheitsfamilie zu denken“ (Nr. 141).

Aber „um die Entwicklung einer weltweiten Gemeinschaft zu ermöglichen, in der eine Geschwisterlichkeit unter den die soziale Freundschaft lebenden Völkern und Nationen herrscht“ (Nr. 154), ist es notwendig, „dass nicht nur eine Spiritualität der Geschwisterlichkeit wachsen muss, sondern zugleich eine weltweite wirksamere Organisation“ (Nr. 165). „In diesem Kontext wird es unerlässlich, stärkere und wirkkräftig organisierte internationale Institutionen zu entwickeln, die Befugnisse haben, die durch Vereinbarung  unter de nationalen Regierungen gerecht bestimmt werden, und mit der Macht ausgestattet sind, Sanktionen zu verhängen“. „Dabei ist nicht notwendigerweise an eine personale Autorität zu denken. Sie müsste zumindest die Schaffung von wirksameren Weltorganisationen vorsehen, die mit der Autorität ausgestattet sind, die Beseitigung von Hunger und Elend und die feste Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte zu gewährleisten“ (Nr. 172). Da der folgende Absatz der Enzyklika der Notwendigkeit einer Reform der Vereinten Nationen gewidmet ist, muss verstanden werden, dass im Geiste von Franziskus diese Organisation für die Ausübung dieser Rolle verantwortlich ist. „Es muss vermieden werden, dass dieser Organisation die Legitimation entzogen wird, denn ihre Probleme und Mängel können nur gemeinsam angegangen und gelöst werden“ (Nr. 173).

In einer Konjunktur, in der sich am Horizont sehr ernste wirtschaftliche und soziale Krisen abzeichnen, die sich aus der hysterischen Reaktion der WHO und der Regierungen auf die Herausforderungen von Sars-Cov-2 ergeben, entsteht das Gespenst einer Weltdiktatur, zunächst eine gesundheitliche und dann die politische. Dies ist keine imaginäre Perspektive, das Produkt eines „verschwörerischen“ Geistes, sondern die Verwirklichung des Traums der Aufklärung einer Welt-Republik, die bereits vor der Französischen Revolution in den Freimaurerlogen geschlüpft war und indirekt in der Enzyklika ersehnt wird durch die Erwähnung der Trilogie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in einem seiner Untertitel (Nr. 103).

Es ist nicht unbegründet, am Ende dieser allgemeinen Übersicht von Fratelli Tutti das Freimaurertum zu erwähnen. Die Januar-Ausgabe des Magazins Nuova Hiram, das vierteljährliche Organ des Großen Orients von Italien, veröffentlichte ein Artikel von Pierluigi Cascioli, mit einem Kommentar zu dem vom Papst Franziskus und Imam Ahmed el-Tayeb in Abu Dhabi unterzeichneten Dokument „Menschliche Bruderschaft für Weltfrieden und das gemeinsame Zusammenleben“, es sei die Hauptinspirationsquelle für die Ausarbeitung der neuen Enzyklika (Nr. 5), die verschiedene Passagen dieser gemeinsamen Erklärung enthält. Obwohl Pierluigi Cascioli sich fragt, ob der Katholizismus und der sunnitische Islam die Erklärung zu ihren letzten Konsequenzen führen werden (uneingeschränkten Zugang von Frauen in ihren jeweiligen Hierarchien und Anerkennung der Legitimität homosexueller Beziehungen), räumt er nachdrücklich ein, dass die beiden religiösen Führer „Stellungnahmen der Avantgarde“ abgegeben haben und dass die in dem Dokument enthaltenen Werte der universalen Brüderlichkeit nicht nur mit dem spezifischen Glauben der beiden Unterzeichner vereinbar sind, sondern dass „diese Werte auch von anderen vollständig geteilt werden, sie können von anderen auf der Grundlage eines ,kleinsten gemeinsamen Nenners‘ geteilt werden, mit Begründung auf die Vernunft“, weil „jeder einzelne Mensch eine unendliche Würde hat“. Nachdem der Verfasser von Nuovo Hiram darauf besteht, dass „die Freimaurer, deren Schwerpunkt die Brüderlichkeit ist, sich mit diesem Dokument unbedingt auseinandersetzen müssen“, erklärt er, dass letzteres eine Einladung ist, „die Kultur des Dialogs als einen Weg zu übernehmen“ (ein Anliegen von Fratelli Tutti) und schließt mit folgender Frage: „Bei Anwendung dieses Prinzips werden Katholiken und Sunniten einen Dialog mit den Freimaurern wollen?“.

(*) Die Redewendung kleinster gemeinsamer Nenner bezeichnet einen Kompromiss oder Konsens auf niedrigstem Niveau. Im Zuge von Verhandlungen kann ein kleinster gemeinsamer Nenner mehrere Bedeutungen haben: z.B. fauler Kompromiss, außer Streit gestellte Punkte, mageres Ergebnis etc. (vgl. Wikipedia: Gemeinsamer Nenner)

Die Nummern in Klammern entsprechen der Aufzählung im Originaltext der Enzyklika.

Aus dem Italienischen mit Hilfe von Google-Übersetzer in 

Quelle: Stilum Curiae, Marco Tosatti – 7. Oktober 2020

 Die deutschen Zitate aus der Enzyklika wurden von der deutschen Übersetzung des Vatikans übernommen in

http://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html

Zuerst erschienen in Revolution und Gegenrevolution

Verwendung dieser deutschen Übersetzung nur mit Quellenangabe dieses Blogs erlaubt.