...als Programm für eine orientierungslose Menschheit
von José Antonio Ureta
Fratelli
Tutti (Omnes Fratres / Alle Brüder) scheint keine Enzyklika zu sein, sondern
die Fortsetzung des Dialogs, den Franziskus seit Beginn seines Pontifikats mit
Agnostikern wie Eugenio Scalfari, Dominique Wolton oder Carlo Petrini geführt
hat, um sie davon zu überzeugen, dass die katholische Kirche mit der atheistischen
Moderne vereinbar ist.
Die
Enzykliken der früheren Päpste haben aus den ewigen Wahrheiten der göttlichen
Offenbarung die Lehren entnommen, die auf die konkrete Situation und
insbesondere auf Krisen der kirchlichen oder zeitlichen Konjunktur anwendbar waren.
Anders schlägt Franziskus Raum für „Überlegungen zur Geschwisterlichkeit aller
Menschen“ zahllose ausschließlich menschlicher Analysen als Hauptnenner
vor: Martin Luther King, Desmond Tutu, Mahatma Ghandi und viele andere (Nr. 286), die trotz religiöser oder philosophischer Unterschiede für alle akzeptabel
sind, da sich dieses Schreiben „an alle Menschen guten Willens, jenseits ihrer
religiösen Überzeugungen richtet“ (Nr. 56).
Diese
Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner mit dem Agnostizismus zeigt sich in
der Passage der Enzyklika unter „Der Konsens und die Wahrheit“, in der Franziskus
betont, dass die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen „eine Wahrheit ist,
die der menschlichen Natur entspricht jenseits jeder kulturellen Veränderung“ und
fügt hinzu: „Agnostikern mag diese Grundlage ausreichend erscheinen, um den nicht
verhandelbaren ethischen Grundprinzipien eine starke und beständige universelle
Gültigkeit zu verleihen, um weitere Katastrophen zu verhindern. Für Gläubige
ist die menschliche Natur als Quelle ethischer Prinzipien von Gott geschaffen,
der diesen Prinzipien letztlich eine feste Grundlage verleiht.“ Um den Verdacht
eines religiösen Proselytismus zu vermeiden, stellt er klar, dass „dies weder
einen ethischen Kreationismus begründet, noch zwingt es irgendein Moralsystem
auf, da universell gültige sittliche Grundprinzipien zu unterschiedlichen
praktischen Normen führen können. Deshalb bleibt immer ein Raum für den Dialog“
(Nr. 214).
Aus
dieser Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner mi dem Agnostizismus geht
auch hervor, dass in dieser Enzyklika, die reichlich selbstreferenziell ist
(170 Zitate eigener Quellen, 43 seiner Vorgänger, nur 20 von Kirchenvätern und Kirchenlehrern),
das Fehlen von Voraussetzungen und sogar Überlegungen übernatürlicher Natur und
speziell christlich-religiöse Überlegungen sehr auffällig ist. Fratelli Tutti ist in einer klaren naturalistischen
und interreligiösen Sprache geschrieben. Es wird praktisch ausgelassen die
übernatürliche Berufung des Menschen, die durch die Sünde in die Welt
eingebrachte Wunde, die Notwendigkeit der Erlösung in Christus, die Heilsrolle
der Kirche, die göttliche Gnade als Voraussetzung für individuelle
Vollkommenheit und sozialen Fortschritt sowie das Naturgesetz als Grundlage der
internationalen Ordnung, die die Grundlage der Ermahnungen früherer Päpste
waren.
Naturalismus
und Interkonfessionalismus zeigen sich besonders in der Grundidee der
Enzyklika, dem „neuen Traum von der Geschwisterlichkeit und der sozialen
Freundschaft“ (Nr. 6) und dem daraus resultierenden „weltweiten Streben nach Geschwisterlichkeit“
(Nr. 8) das Franziskus „zum Leben erwecken“ möchte, ausgehend von der
Anerkennung der Würde eines jeden Menschen ohne jeglichen Bezug zu Gott,
abgesehen von einer kurzen Erwähnung der Überzeugung der Gläubigen, ist dies,
was den ungewöhnlichen Ton des Dokuments hervorhebt: „Als Gläubige sind wir
davon überzeugt, dass es ohne eine Offenheit gegenüber dem Vater aller keine
soliden und beständigen Gründe für den Aufruf zur Geschwisterlichkeit geben kann“
(Nr. 272).
Selbst
das Gleichnis vom barmherzigen Samariter wird in einem rein humanistischen
Schlüssel interpretiert: Die Erzählung zeigt uns laut dem Papst „eine oft
vergessene wesentliche Charakteristik des menschlichen Seins: Wir sind für die
Fülle geschaffen, die man nur in der Liebe erlangt“ (Nr. 68). „Jesus vertraut
auf die bessere Seite des menschlichen Geistes und ermutigt ihn mit dem
Gleichnis, sich an die Liebe zu halten, den Leidenden wieder einzugliedern und
eine Gesellschaft aufzubauen, die dieses Namens würdig ist“ (Nr. 71). Der
weltliche Charakter dieser Liebe wird durch die Überlegung betont: „ein
gläubiger Mensch kann sich Gott nahe fühlen und sich für würdiger als die anderen
halten“, während „paradoxerweise können diejenigen, die sich für ungläubige
halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Glaubenden“ (Nr.
74).
Diese
Nächstenliebe leitet sich nicht unbedingt aus der Liebe Gottes ab. Das Wort „Nächstenliebe“
(carità) wird in der Enzyklika 33 Mal verwendet, aber es wird nie mit der „Freundschaft
des Menschen gegenüber Gott“ in Verbindung gebracht, aus der es im Wesentlichen
besteht (hl. Thomas von Aquin, Summa,
II-II, Q. 23, a. 1, resp.), woraus sich ergibt, dass „der Grund den nächsten zu
lieben, Gott ist“ (ebd. Q.25, a.1, resp.). Das Weglassen des hauptsächlich
vertikalen Charakters der Nächstenliebe führt sogar zur Behauptung, dass, um die
„Ausdrucksform der verschiedenen moralischer Tugenden“ (wie Tapferkeit,
Nüchternheit, Fleiß usw.) „richtig zu lenken, ist auch zu bedenken, inwieweit
sie eine Dynamik der Offenheit und Einheit mit anderen Menschen bewirken“ (Nr.
91), die Liebe zu Gott wird verschwiegen.
Nach
dem Gesagten scheint Fratelli Tutti
weitgehend unter das kritische Urteil zu fallen, das der hl. Papst Pius X. in
der Enzyklika Notre Charge Apostolique
über die Schriften der Le Sillon-Bewegung gefällt hat, wo er schreibt, dass
diese Bewegung eine nicht-katholische Auffassung der Nächstenliebe fördere:
„Dieselbe
katholische Lehre lehrt uns auch, dass die Quelle der Nächstenliebe sich in der
Liebe zu Gott befindet, dem gemeinsamen Vater und gemeinsamen Ziel der gesamten
Menschheitsfamilie; und in der Liebe zu Jesus Christus, dessen Glieder wir in
einer Weise sind, dass die Hilfe für einen Unglücklichen eine Jesus Christus
selbst erwiesene Wohltat ist. Jede andere Liebe ist eine Illusion oder ein unfruchtbares,
vergängliches Gefühl. Die menschliche Erfahrung beweist es wahrlich, dass in den
heidnischen und laizistischen Gesellschaften aller Zeiten, unter gewissen
Unständen die Rücksicht auf die allgemeinen Interessen oder auf die gleiche
Menschennatur sehr wenig Gewicht hat gegenüber den ungeordneten Leidenschaften
und Begierden des Herzens. Nein, ehrwürdige Brüder, es gibt keine wahre Brüderlichkeit außerhalb der christlichen Liebe,
die aus Liebe zu Gott und seinem Sohn Jesus Christus, unserem Erlöser, alle
Menschen umfasst: um allen beizustehen und alle zum selben Glauben und zum selben
Glück des Himmels zu führen. Wenn die Demokratie die Brüderlichkeit von der
so verstandenen christlichen Liebe trennt, so bedeutet sie keinen Fortschritt,
sondern schafft einen unheilvollen Rückgang der Zivilisation.“ (Nr. 24, die
Hervorhebungen sind von mir).
Die
Worte des hl. Pius X. geben das notwendige Licht, um einen weiteren Aspekt der
jüngsten Enzyklika von Franziskus hervorzuheben: die relativistische Synthese
der Koexistenz von Gegensätzen, die durch Dialog als Unterstützung für universale
Brüderlichkeit und soziale Freundschaft dienen muss. Das Vorbild einer „Kultur
der Begegnung“ (6-Mal im Text erwähnt) und des „Dialogs“ (46-Mal erwähnt) wäre
der hl. Franziskus, der „keine Wortgefechte führte, um seine Lehren aufzudrängen“,
doch „er war ein wirklich liebevoller Vater, der es auf sich nimmt auf andere Menschen
in ihrer Bewegung zuzugehen, nicht um sie zu vereinnahmen, sondern um ihnen zu
helfen, mehr sie selbst zu werden“ (Nr. 4).
Heute,
im Gegenteil, „herrscht der Brauch, den Gegner schnell zu diskreditieren und mit
demütigenden Schimpfwörtern zu versehen, anstatt sich einem offenen und
respektvollen Dialog zu stellen, bei dem man eine Synthese sucht, die weiterführt“
(Nr. 201). Tatsächlich müssen wir daran denken, dass „Unterschiede kreativ
sind, sie erzeugen Spannungen und in der Auflösung einer Spannung liegt der Fortschritt
der Menschheit“ (Nr. 203).
Für
Papst Franziskus wäre dies kein Relativismus, solange eine objektive Wahrheit
weiterhin gültig bleibt: dass jeder Mensch heilig ist (Nr. 207), aus dem
hervorgeht, dass die Menschenrechte unantastbar sind (Nr. 209) und ein
dauerhafter, transzendenter und nicht verhandelbarer Wert. (Nr. 211 und 273).
Im Übrigen ist das, „was wir ,Wahrheit‘ nennen“ (die Anführungszeichen stammen
aus der Enzyklika) „vor allem die Suche nach den stabilsten Grundlagen für
unsere Entscheidungen und auch für unsere Gesetze“ (Nr. 208), also „in einer
pluralistischen Gesellschaft ist der Dialog der beste Weg, zur Anerkennung
dessen, was stets bejaht und respektiert werden muss und was über die umstandsbedingten
Konsens hinausgeht“ (Nr. 211). Von dort aus entsteht „eine Kultur der Begegnung“,
die „ein Lebensstil ist, der eine Polyederbildung mit vielen Facetten und sehr
vielen Seiten, die aber zusammen alle eine nuancenreiche Einheit bilden“, „eine
Gesellschaft, in der Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig
ergänzen, bereichern und erhellen“ (Nr. 215). Dazu sind nötig einerseits „die
Fähigkeit, dem Nächsten das Recht zuzugestehen, er selbst zu sein und anders zu
sein“ (Nr. 218) und andererseits „ein Kulturpakt“, der die Annahme der
Möglichkeit beinhaltet, zum Gemeinwohl auf etwas zu verzichten.
„Niemand
wird die ganze Wahrheit besitzen oder alle seine Wünsche erfüllen können. Ein
solcher Anspruch würde nämlich dazu führen, den anderen zu zerstören, indem man
ihm seine Rechte verweigert“ (Nr. 221). Es geht um den Realismus des Dialogs „derer,
die überzeugt sind, ihren Prinzipien treu bleiben zu müssen, gleichzeitig aber
anerkennen, dass der andere ebenso das Recht hat, zu versuchen, seinen eigenen Prinzipien
treu zu sein“ (idem) und es uns ermöglicht, gemeinsam zu träumen „als eine einzige
Menschheit zu träumen, als Weggefährten vom gleichen menschlichen Fleisch, als
Kinder der gleichen Erde, die uns alle beherbergt, jeder mit dem Reichtum
seines Glaubens oder seiner Überzeugung, jeder mit seiner eigenen Stimme, alles
Geschwister“ (Nr. 8).
Für
Franziskus ist dies weder Synkretismus noch Absorption des einen im anderen, „sondern
es geht um eine Lösung auf einer höheren Ebene, welche die wertvollen
innewohnenden Möglichkeiten und die Polaritäten im Streit beibehält“ (Nr. 245),
was eine besondere Form der Hegelschen Dialektik zu sein scheint, in der die
Synthese als ein unerreichbarer Horizont verbleibt.
Es
ist leicht zu erkennen, dass all dies nicht mit dem harmoniert, was der hl.
Papst Pius X. lehrte, als er die Le Sillon-Bewegung wegen Abkehr von der
katholischen Lehre verurteilte: „Genauso steht es um den Begriff der Brüderlichkeit,
die sie in der Liebe zu den gemeinsamen Interessen begründen oder, über alle
Weltanschauungen und alle Religionen hinweg, einfach im Begriff der Humanität,
wobei sie mit gleicher Liebe und gleicher Toleranz alle Menschen mit allen
ihren Nöten umfassen, den geistigen und moralischen ebenso, wie den
körperlichen und irdischen. Die katholische Lehre zeigt uns aber, dass die erste Pflicht der Nächstenliebe nicht
in der Toleranz gegenüber irrigen Überzeugungen, so aufrichtig dieselben auch
sein mögen, besteht; auch nicht in der theoretischen oder praktischen
Indifferenz gegenüber dem Irrtum und dem Laster, wohin wir unsere Brüder
gestürzt sehen: sondern sie besteht in dem Eifer, sie geistig und moralisch zu
bessern, nicht weniger, als in der Sorge für ihr materielles Wohlergehen.“(24,
die Hervorhebungen sind von mir).
Der
Ton des philosophischen Relativismus und des religiösen Interkonfessionalismus
von Fratelli Tutti erstreckt sich
gleichermaßen auf die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und anderen
Religionen. „Ausgehend von der Wertschätzung jeden Menschen als Geschöpf mit
Berufung zur Gotteskindschaft, leisten die verschiedenen Religionen einen
wertvollen Beitrag zum Aufbau von Geschwisterlichkeit und zur Verteidigung der
Gerechtigkeit in der Gesellschaft“ (Nr. 271). In dieser Hinsicht wären alle
Religionen gleich: „Aus unserer Glaubenserfahrung und aus der Weisheit, die
sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hat, aber auch dank des Lernens aus
unseren vielen Schwächen und Stürzen wissen wir Gläubige verschiedener
Religionen, dass es für unsere Gesellschaften gut ist, wenn wir Gott in ihnen gegenwärtig
machen.“ (Nr. 274).
Die
Bibel fällt ebenfalls in diese Gleichung, denn für Franziskus können alle „klassischen
religiösen Texte für alle Zeiten von Bedeutung sein, und eine motivierende
Kraft besitzen, die immer neue Horizonte öffnet, das Denken anregt, den Geist weitet
und das Feingefühl erhöht“ (Nr. 275). Und weiter fügt er hinzu: „Andere nähren sich
aus anderen Quellen. Für uns liegt die Quelle der Menschenwürde und Geschwisterlichkeit
im Evangelium Jesu Christi“(Nr. 277).
Darüber
hinaus hat Gott keine bevorzugte Option für die Getauften im Allgemeinen (die
die einzigen wahren Kinder Gottes sind) oder für die katholischen Gläubigen, Glieder
seines mystischen Leibes im Besonderen, sondern „Gottes Liebe ist für jeden Menschen
gleich, unabhängig von seiner Religion. Und wenn er Atheist ist, ist es die gleiche
Liebe“ (Nr. 281).
Aus
diesen religiösen und philosophischen Voraussetzungen - auf der Suche nach
einem kleinsten gemeinsamen Nenner für alle Menschen, wie wir zu Beginn sagten
- zieht die Enzyklika Fratelli Tutti
hauptsächlich zwei praktische Konsequenzen, die zu einem Unwohlsein führen,
wenn sie nicht eine noch größere Bresche öffnen, zwischen Papst Franziskus und
einem großen Teil der katholischen Gläubigen: Es geht um die Förderung der
Einwanderung als Voraussetzung für eine offene Gesellschaft und eine
Weltregierung zur Lösung globaler Probleme.
Für
Franziskus ist „Liebe, die über alle Grenzen hinausreicht, die Grundlage dessen,
was wir in jeder Stadt und in jedem Land ,soziale Freundschaft‘ nennen“, eine
Bedingung für „wirklicher universaler Offenheit“ (Nr. 99). Sein Universalismus ist
nicht mit einer Globalisierung zu verwechseln, die „eine homogenen,
einheitlichen und standardisierten Domäne einer einzigen vorherrschenden
Kulturform“ fördert (Nr. 144), sondern eine facettenreiche Gesellschaft
(Polyeder) aufbaut, in der „zwar jeder einzelne Teil in seinem Wert respektiert
wird, und zugleich das Ganze mehr ist als die Teile, und auch mehr als ihre bloße
Summe“ (Nr. 145). Wie im Fall des Dialogs steht für den Papst „eine gesunde
Offenheit nie im Gegensatz zur eigenen Identität“, weil „eine lebendige Kultur,
die sich um neue Elemente fremder Herkunft bereichert, wird diese nie einfach
kopieren oder wiederholen, sondern sie wird sich das Neue auf ihre Art und Weise
zu eigen machen. Dies führt zur Entstehung einer neuen Synthese, die letztlich
allen zugute kommt“ (Nr. 148).
Deshalb
müssen wir „eine offene Welt denken und schaffen“ (dies ist der Titel des
Dritten Kapitels der Enzyklika), in der „Rechte ohne Grenzen“ in Kraft sind (es
ist der Untertitel eines Abschnitts), da „niemand aufgrund seiner Herkunft ausgeschlossen
werden darf“ unabhängig davon, wo er geboren wurde, „und schon gar nicht
aufgrund der Privilegien anderer, die unter günstigeren Umständen aufgewachsen
sind“. „Auch die Grenzen und Grenzverläufe von Staaten können das nicht verhindern“ (Nr.
121). Da die universelle Bestimmung der Güter der Erde nicht nur das
Privateigentum mit einer sozialen Funktion belastet – „wenn sich jemand etwas aneignet,
dann nur, um es zum Wohl aller zu verwalten“ (Nr. 122) -, sondern bedingt auch
die Souveränität der Nationen über ihr eigenes Territorium, da „jedes Land auch
ein Land des Ausländer ist, denn die Güter eines Territoriums dürfen einer
bedürftigen Person, die von einem anderen Ort kommt, nicht vorenthalten werden“
(Nr. 124).
In
Wirklichkeit müssen die Güter dieses Landes nicht nur den Bedürftigen zur
Verfügung stehen, denn „es ist unsere Pflicht, das Recht eines jeden Menschen
zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seine
Grundbedürfnisse und denen seiner Familie nachkommen, sondern auch als Person voll verwirklichen kann“ (Nr.129).
Dies würde bedeuten, dass jeder, der sich als neuen Picasso oder neuen Einstein
betrachtet, das Recht haben würde, nach Paris oder Massachusetts zu ziehen, um
seine künstlerischen oder wissenschaftlichen Talente an der Écôle des Beau Arts
oder am MIT (Massachusetts
Institute of Technology) voll zu entfalten.
Wenn
viele einfach auswandern, um eine bessere Zukunft zu suchen, als sie es in
ihrer Heimat tun können, kümmert sich Papst Franziskus in dieser Enzyklika -
anders als er es manchmal gesagt hat, wenn auch nur kurz - nicht um das Recht
jedes Landes, das Migrationsphänomen entsprechend zu regulieren nach den jeweiligen
Möglichkeiten, sondern beschränkt sich darauf zu sagen, dass „die Ankunft
verschiedener Menschen, die aus einem anderen Lebenskontexten und kulturellen Zusammenhänge
kommen, zu einer Chance wird“ und „eine Chance zur Bereicherung und Förderung
der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung aller“ ( Nr. 133). Und er besteht
darauf: „Einwanderer sind, wenn man ihnen bei der Integration hilft, ein Segen,
ein Reichtum und ein neues Geschenk, das eine Gesellschaft einlädt sich
weiterzuentwickeln“ (Nr. 135).
Es
gibt keinen Hinweis auf das Risiko einer massiven und destabilisierenden
Einwanderung, wie dies derzeit in Europa der Fall ist, wo eine starke
muslimische Komponente sich weigert, sich zu integrieren, so dass Präsident
Macron eine Initiative gegen den „islamischen Separatismus“ in den städtischen
Peripherien starten musste, wo nicht einmal die Polizei eintreten kann...
Franziskus
hingegen hält es für notwendig, das Risiko von „lokalen Narzissmus“
hervorzuheben, hinter dem sich „ein verschlossener Geist verbirgt, der aus
einer gewissen Unsicherheit und Furcht vor dem anderen lieber Mauern errichtet,
um sich zu schützen“ und „ein solch unguter Lokalpatriotismus ist zwanghaft auf
einige wenige Ideen, Bräuche und Gewissheiten beschränkt“ (Nr. 146). Das lokale
Leben „wird unbeweglich und krank“ (idem), da „andere konstitutiv notwendig
sind für den Aufbau eines erfüllten Lebens“ (Nr. 150).
Daher
sind Migrationen nicht nur an sich gut, sondern „werden ein grundlegendes
Element der Zukunft der Welt darstellen“ (Nr. 40). Die Gesundheitskrise von
Covid-19 wiederum ist die großartige Gelegenheit, aus der „egoistischen Selbsterhaltung“
herauszukommen: „Gott gebe es, dass es am Ende nicht mehr „die Anderen“,
sondern nur ein „Wir“ gibt, „so wird die Menschheit mit all ihren Gesichtern,
all ihren Händen und all ihren Stimmen wiedererstehen über die von uns
geschaffenen Grenzen hinaus“ (Nr. 35), weil, „wie es um die verschiedene Länder
der Welt bestellt ist, lässt sich an die Fähigkeit abmessen, nicht nur an das
eigene Land, sondern an die ganze Menschheitsfamilie zu denken“ (Nr. 141).
Aber
„um die Entwicklung einer weltweiten Gemeinschaft zu ermöglichen, in der eine
Geschwisterlichkeit unter den die soziale Freundschaft lebenden Völkern und
Nationen herrscht“ (Nr. 154), ist es notwendig, „dass nicht nur eine
Spiritualität der Geschwisterlichkeit wachsen muss, sondern zugleich eine weltweite
wirksamere Organisation“ (Nr. 165). „In diesem Kontext wird es unerlässlich, stärkere
und wirkkräftig organisierte internationale Institutionen zu entwickeln, die Befugnisse
haben, die durch Vereinbarung unter de
nationalen Regierungen gerecht bestimmt werden, und mit der Macht ausgestattet sind,
Sanktionen zu verhängen“. „Dabei ist nicht notwendigerweise an eine personale Autorität
zu denken. Sie müsste zumindest die Schaffung von wirksameren
Weltorganisationen vorsehen, die mit der Autorität ausgestattet sind, die Beseitigung
von Hunger und Elend und die feste Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte
zu gewährleisten“ (Nr. 172). Da der folgende Absatz der Enzyklika der
Notwendigkeit einer Reform der Vereinten Nationen gewidmet ist, muss verstanden
werden, dass im Geiste von Franziskus diese Organisation für die Ausübung
dieser Rolle verantwortlich ist. „Es muss vermieden werden, dass dieser Organisation
die Legitimation entzogen wird, denn ihre Probleme und Mängel können nur gemeinsam
angegangen und gelöst werden“ (Nr. 173).
In
einer Konjunktur, in der sich am Horizont sehr ernste wirtschaftliche und
soziale Krisen abzeichnen, die sich aus der hysterischen Reaktion der WHO und
der Regierungen auf die Herausforderungen von Sars-Cov-2 ergeben, entsteht das
Gespenst einer Weltdiktatur, zunächst eine gesundheitliche und dann die politische.
Dies ist keine imaginäre Perspektive, das Produkt eines „verschwörerischen“
Geistes, sondern die Verwirklichung des Traums der Aufklärung einer Welt-Republik,
die bereits vor der Französischen Revolution in den Freimaurerlogen geschlüpft
war und indirekt in der Enzyklika ersehnt wird durch die Erwähnung der Trilogie
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in einem seiner Untertitel (Nr. 103).
Es
ist nicht unbegründet, am Ende dieser allgemeinen Übersicht von Fratelli Tutti das Freimaurertum zu
erwähnen. Die Januar-Ausgabe des Magazins
Nuova Hiram, das vierteljährliche Organ des Großen Orients von Italien, veröffentlichte
ein Artikel von Pierluigi Cascioli, mit einem Kommentar zu dem vom Papst Franziskus
und Imam Ahmed el-Tayeb in Abu Dhabi unterzeichneten Dokument „Menschliche
Bruderschaft für Weltfrieden und das gemeinsame Zusammenleben“, es sei die
Hauptinspirationsquelle für die Ausarbeitung der neuen Enzyklika (Nr. 5), die
verschiedene Passagen dieser gemeinsamen Erklärung enthält. Obwohl Pierluigi
Cascioli sich fragt, ob der Katholizismus und der sunnitische Islam die
Erklärung zu ihren letzten Konsequenzen führen werden (uneingeschränkten Zugang
von Frauen in ihren jeweiligen Hierarchien und Anerkennung der Legitimität
homosexueller Beziehungen), räumt er nachdrücklich ein, dass die beiden
religiösen Führer „Stellungnahmen der Avantgarde“ abgegeben haben und dass die
in dem Dokument enthaltenen Werte der universalen Brüderlichkeit nicht nur mit
dem spezifischen Glauben der beiden Unterzeichner vereinbar sind, sondern dass „diese
Werte auch von anderen vollständig geteilt werden, sie können von anderen auf
der Grundlage eines ,kleinsten gemeinsamen Nenners‘ geteilt werden, mit Begründung
auf die Vernunft“, weil „jeder einzelne Mensch eine unendliche Würde hat“.
Nachdem der Verfasser von Nuovo Hiram
darauf besteht, dass „die Freimaurer, deren Schwerpunkt die Brüderlichkeit ist,
sich mit diesem Dokument unbedingt auseinandersetzen müssen“, erklärt er, dass
letzteres eine Einladung ist, „die Kultur des Dialogs als einen Weg zu
übernehmen“ (ein Anliegen von Fratelli
Tutti) und schließt mit folgender Frage: „Bei Anwendung dieses Prinzips
werden Katholiken und Sunniten einen Dialog mit den Freimaurern wollen?“.
(*) Die Redewendung kleinster gemeinsamer Nenner bezeichnet einen Kompromiss oder Konsens auf niedrigstem Niveau. Im Zuge von Verhandlungen kann ein kleinster gemeinsamer Nenner mehrere Bedeutungen haben: z.B. fauler Kompromiss, außer Streit gestellte Punkte, mageres Ergebnis etc. (vgl. Wikipedia: Gemeinsamer Nenner)
Die Nummern in Klammern entsprechen der Aufzählung im Originaltext der Enzyklika.
Quelle: Stilum Curiae, Marco Tosatti – 7. Oktober 2020
http://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html
Verwendung
dieser deutschen Übersetzung nur mit Quellenangabe dieses Blogs erlaubt.
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