Was aber Deutschland betrifft, war diese Warnung keineswegs übertrieben.
Ende 2013 drang der erste Entwurf des baden-württembergischen „Bildungsplanes 2015“ an die Öffentlichkeit. Dieser sah die fächerübergreifende Einführung der „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ im schulischen Unterricht vor. Der Bildungsplan war dermaßen stark von Gender durchdrungen, dass sofort der Verdacht der Indoktrination aufkam. In der Tat berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 14. Januar 2014: „Von Seiten der Kirchen sei deutlich Kritik geäußert worden, man sei dann überrascht gewesen, dass diese Diskussion auf das am 18. November 2013 verfasste Arbeitspapier keinen Einfluss gehabt habe. Man habe angedeutet, dass der Druck der Lobby-Gruppen, also der Lesben- und Schwulenverbände, ausgesprochen stark sei.“
Bekanntlich bildete sich massiver Widerstand gegen den „Bildungsplan 2015“, der sich in Form von Petitionen, Straßendemonstrationen, Kundgebungen, Postkartenaktionen etc. artikulierte. Schließlich trat im Frühjahr 2016 ein Bildungsplan in Kraft, der hinsichtlich der umstrittenen Inhalte verbal stark abgemildert war, doch weiterhin in der Leitperspektive „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ die Tür für die Einführung von Gender in die Schulen offen lässt.
Mit diesem Bildungsplan für Baden-Württemberg wurde kein Schlusspunkt in der Diskussion um „Gender in der Schule“ gesetzt. In etlichen weiteren Bundesländern wurde seitdem Gender in der einen oder anderen Form in den Unterricht eingeführt oder man ist dabei, es einzuführen. Darunter auch drei Union-regierte Bundesländer: Sachsen-Anhalt, Hessen und Bayern (hier befindet man sich noch in der Diskussionsphase).
Die Art und Weise, wie in Hessen Gender im Rahmen des neuen „Lehrplans zur Sexualerziehung“ eingeführt wurde, ist besonders schockierend. Das Kultusministerium verfasste den Lehrplan völlig von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Und nach Inkrafttreten wurde nicht einmal eine Presseerklärung veröffentlicht. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU und Grünen sieht zwar die Errichtung eines „Aktionsplanes gegen Homophobie“ vor, doch keineswegs die Einführung von Inhalten wie „Akzeptanz sexueller Vielfalt“, „alternative Partnerschaftsformen“, „Unterstützung für Schülerinnen und Schülern beim Coming Out“ etc. in die Schulen. Die Bildungspolitik blieb im Koalitionsvertrag weitgehend eine Domäne der CDU. Der neue Lehrplan geht also weit über das im Koalitionsvertrag vereinbarte hinaus. Die Heimlichtuerei lässt die Vermutung zu, man wolle eine öffentliche Debatte wie die in Baden-Württemberg verhindern. Kein besonders demokratisches Verhalten!
Diese umstrittenen Themen im hessischen Lehrplan sind verbindlich und fächerübergreifend, gehen also wesentlich weiter als die übliche Sexualkunde. Selbst die alles andere als konservativ eingestellte Professorin für Biologiedidaktik Karla Etschenberg kritisierte diesen Lehrplan in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 23. September 2016: „Aus Sicht gläubiger Christen, die sich auf den Katechismus berufen, kann ich das verstehen. Akzeptanz bedeutet Billigung und Einverstandensein. Das kann bezüglich nicht heterosexueller Orientierungen von gläubigen Katholiken nicht erwartet werden. Sie sind nur zur Toleranz bereit.“
Für Etschenberg birgt der hessische Sexualerziehungsplan die Gefahr, die Kinder zu sexualisieren. In der Tat sollen die Schüler ab sechs Jahren mit Inhalten wie „kindliches Sexualverhalten“ und „gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ konfrontiert werden.
Die Angelegenheit ist dermaßen skandalös, dass quasi spontan Aktionen organisiert wurden. Für den 30. Oktober ist in Wiesbaden eine Demonstration des Aktionsbündnisses „Demo für Alle“ angekündigt.
Die Entschlossenheit, Gender, mit der Brechstange in den Schulen durchzusetzen, ist wirklich verblüffend. Dabei werden sogar erhebliche Prestigeverluste in Kauf genommen. So hat der hessische Kultusminister Ralph Alexander Lorz (CDU!) den Lehrplan gegen den Willen des Landeselternbeirates und der Katholiken (in der Form des angefragten Kommissariats der deutschen Bischöfe in Hessen) verabschiedet. Eltern und Katholiken sind auch in Hessen klassische CDU-Wähler.
Ist man dabei, koste es, was es wolle, eine Hidden-Agenda durchzusetzen? Jedenfalls ist die Intention, Gender zu einem wichtigen Bestandteil der schulischen Erziehung zu machen, schon seit langem in pädagogischen Fachbüchern zu finden.
Man muss in der sog. „Dekonstruktiven Pädagogik“ suchen. Die Literatur dazu ist umfangreich. Um einige wenige Beispiele zu geben, zitiere ich aus Professorin Jutta Hartmanns Buch „Vielfältige Lebensweisen - Dynamisierungen in der Triade Geschlecht - Sexualität - Lebensform. Kritisch-dekonstruktive Perspektiven für die Pädagogik“, erschienen 2002. Hartmann ist eine der wichtigsten Exponate der „Dekonstruktiven Pädagogik“ und schreibt: „Geschlecht, Sexualität und Lebensform als gänzlich gesellschaftlich hervorgebracht begreifend, arbeite ich eine Vorstellung von Handlungsfähigkeit heraus, die die Möglichkeit bewusster Aktivität gegenüber Normen und ein Neuentwerfen von Existenz- und Lebensweisen beinhaltet.“
Ein weiteres Zitat, um besser zu veranschaulichen, wie radikal und zielorientiert man in der Fachpädagogik vor sich ging: „Der Identitäts-Begriff bezeichnet die Nahtstelle zwischen Individuum und Gesellschaft. Identität meint die Beziehung des einzelnen zu sich selbst auf dem Hintergrund seiner Position im sozialen Gefüge. ... Identitäten - auch Geschlechtsidentitäten - sind nicht klar, eindeutig und selbstverständlich, wie sie es früher zu sein schien. Sie müssen neu gedacht werden: kontingent, fluid, nur zeitweise fixiert“. Diese Passage entstammt dem Beitrag Helga Bidens „Die Grenzen von Geschlecht überschreiten“, für das von Anja Tervooren herausgegebene Sammelband „Dekonstruktive Pädagogik“, erschienen 2001.
Durchforscht man die theoretische Literatur zu Gender, etwa die Bücher von Judith Butler oder die vielen anderen Autoren, die sich der theoretischen Dekonstruktion des Begriffs „Geschlecht“ seit den frühen 1990ern widmeten, stellt man fest, dass die Implementierung dieser Ideologie in der Gesellschaft als linkes kulturrevolutionäres Projekt schon seit langem vorbereitet wird.
Das Kernpostulat der Gender-Ideologie, die Geschlechter seien nicht eindeutig definiert und maßgeblich von Gesellschaft und Kultur „konstruiert“, ist dermaßen abenteuerlich, dass viele einen Widerstand wohl für unnötig hielten.
Dass dies eine fatale Fehleinschätzung war, zeigt die Tatsache, dass – zumindest in Deutschland – Gender sogar schon Eingang in das katholische Milieu fand – trotz eindringlicher Warnungen seitens der Päpste! In Deutschland verhallen jedoch die Warnungen aus Rom bei vielen. Caritas, BDKJ, „Sozialdienst katholischer Frauen“ und andere katholische Verbände sympathisieren mit Gender (zumindest mit den gemäßigteren Varianten).
Wie ist das zu erklären, wenn doch Gender im offensichtlichen Widerspruch mit dem Naturrecht und dem katholischen Lehramt steht?
In gewissen evangelischen Teilkirchen ist Gender sogar schon fester Bestandteil des Programms. In Hannover hat die EKD ein „Studienzentrum für Genderfragen eröffnet“. Die Badische Landeskirche verordnete unter dem Protest konservativer Protestanten die „Gleichstellung sexueller Orientierungen“.
Im Gegensatz also zu den Päpsten, der anfangs zitierten slowakischen Bischofskonferenz und mehreren anderen europäischen Bischofskonferenzen tut das deutsche Christentum so, als ob Gender keine Gefahr darstellen würde (abgesehen von manchen bedeutungsvollen Ausnahmen, wie etwa Bischof Voderholzer von Regensburg).
Das ist wohl einer der Gründe, wieso hierzulande der Widerstand gegen diese unvernünftige Doktrin verhältnismäßig schwach ist. Bei unseren westlichen Nachbarn Frankreich gingen Millionen auf die Straßen, um an den Protesten der „Manif pour tous“ teilzunehmen. In Polen wurde bislang jeder Versuch, Gender gesellschaftsfähig zu machen, im Keime erstickt. (Allerdings ist Gender an manchen Universitäten durchaus populär und es gibt eine Szene von Multiplikatoren.)
Muss man den stattfindenden Durchmarsch der Gender-Ideologie in Deutschland als eines der Symptome der hiesigen Glaubenskrise diagnostizieren? Ich wage, diese Frage positiv zu beantworten. In einem Land, in welchem der Glaube stark ist und auch die Öffentlichkeit beeinflusst, hat Gender keine Chance. Auch deshalb, weil Gender eine Verspottung der Schöpfungsordnung Gottes ist, nach der der Mensch als Mann oder Frau erschaffen ist.
Genauso wie andere Ideologien wie etwa Marxismus, kann sich die Gender-Ideologie nur in Gesellschaften erfolgreich ausbreiten, in denen sie nicht auf den Widerstand des christlichen Glaubens stößt.
In Deutschland kommt erschwerend hinzu, dass aufgrund der „Königsteiner Erklärung“ das positive Wirken der Enzyklika Humanae Vitae stark eingeschränkt wurde. Das Schreiben von Papst Paul VI. bekräftigte die enge Verbindung zwischen Geschlechtsakt und Fortpflanzung. Die „Königsteiner Erklärung“ der deutschen Bischöfe überlies die Entscheidung über die Verwendung von Verhütungsmitteln den einzelnen Ehepaaren und unterstützte so die Bildung einer „Verhütungsmentalität“, die wiederum die Vorstellung, Geschlechtsakt und Fortpflanzung seien zwei verschiedene Dinge, begünstigte.
Eine Trennung der Verbindung zwischen Geschlechtsakt und Fortpflanzung schafft geradezu die Voraussetzungen in der Mentalität der Menschen, um eine widersinnige Ideologie wie Gender zu akzeptieren, wie die Theologen Juan José Pérez-Soba und Stephan Kampowski am „Päpstlichen Institut Johannes Paul II. für Studien über Ehe und Familie“ im Buch „Das wahre Evangelium der Familie: Die Unauflöslichkeit der Ehe: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“ zu bedenken geben.
Eine Reaktion gegen diese gefährliche Doktrin kann sich deshalb nicht auf der politischen Ebene erschöpfen, wie wichtig diese auch ist! Der Kampf gegen Gender muss auch auf geistlicher Ebene geführt werden. Deutschland braucht Mission und eine wahrhaftige Bekehrung, um sich von diesen Irrtümern befreien zu können.