Kreml und Steinbrücke, F. J. Alexejew 1801, Aquarell und Gouache Foto: picture-alliance/akg |
Arzt und Seelsorger für die Häftlinge und Deportierten in Russland
Pfeifer,
Katharina; Gerabek, Werner E.
Zwei Ärzte betreten im Jahr 1848 einen der Krankensäle des Moskauer Armenspitals. Der eine ist schon älter, hochgewachsen und breitschultrig, und trägt einen abgewetzten Gehrock und im Knopfloch das Abzeichen des Wladimirordens – es ist Friedrich Joseph Haass, so wie er in seinen letzten Lebensjahren für seine Patienten und die Moskauer Bevölkerung ein vertrauter Anblick war. Er wird begleitet von einem hospitierenden ärztlichen Kollegen, A. K. Schisnewsky, der später von dieser Szene berichten wird, die sich während der zweiten großen Choleraepidemie in Moskau abgespielt hat.
Haass
betrachtet jeden seiner Patienten im Raum, von denen die meisten alt, schwach, schwer
krank und ärmlich gekleidet sind, mit gütigem, wohlwollendem Blick. Er hat für
jeden von ihnen ein aufmunterndes Wort, eine freundliche Berührung oder eine
persönliche Frage; ihr Befinden, körperlich und seelisch, scheint ihm sehr am
Herzen zu liegen. So gehen die beiden durch den Raum und kommen schließlich an
einem Bett am Ende des Saals an, in dem ein Schwerkranker liegt und stöhnt.
Haass wendet sich zu seinem Begleiter und sagt mit Nachdruck: „Das ist der
erste Cholerakranke bei uns“, beugt sich über den Patienten und küsst ihn
liebevoll. Der erschrockene Kollege schaut ungläubig und weicht einen Schritt
zurück.
Hätte
man den noch jungen Haass mit solch einer Perspektive konfrontiert, würde er
wahrscheinlich nur nachsichtig den Kopf geschüttelt haben. Denn eigentlich sah
es aus, als würde er eine ärztliche Bilderbuchkarriere machen: Geboren im
August 1780 in Münstereifel, aufgewachsen in einer christlichen Familie als
Sohn eines Apothekers, besuchte Haass als Jugendlicher das Gymnasium der Stadt
und setzte seine Ausbildung zunächst an der Hohen Schule in Köln und seit 1802
an den Universitäten von Jena und Göttingen fort. Als Student der Medizin,
Philosophie und Naturwissenschaften bildete er sich – ganz im Stil der
damaligen Zeit – auf breiter Front und hatte engen Kontakt zu den
Naturphilosophen um Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, deren Ideen ihn
begeisterten und die ihn stark beeinflussten. Um sich in der Augenheilkunde
fortzubilden, ging Haass nach seiner Promotion 1805 nach Wien.
Schon im nächsten Jahr nahm er ein Angebot der Petersburger Fürstin Repnin an, sie als ihren Hausarzt nach Russland zu begleiten. Die Reise ging bis Moskau, wo Haass es innerhalb kürzester Zeit schaffte, sich einen Namen als fähiger und vertrauenswürdiger Arzt zu machen und im Juni 1807 als Chefarzt des Pauls-Krankenhauses in den Staatsdienst berufen zu werden. Neben dieser Anstellung, die er 1812 wieder aufgab, und seiner Tätigkeit als Stadtphysikus von Moskau in den Jahren 1825 und 1826 war Haass in den nächsten 21 Jahren ohne Unterbrechung in seiner gut gehenden Privatpraxis als Hausarzt des Moskauer Bürgertums tätig und betreute außerdem unentgeltlich und freiwillig die Kranken in den Armenhäusern der Stadt. Er war Mitglied in der Moskauer Naturwissenschaftlich-Medizinischen Gesellschaft und unternahm 1809 und 1810 zwei Reisen in den Kaukasus, wo er die von ihm so benannten Alexanderquellen erforschte.
Alles
deutete also darauf hin, dass er den Traum eines jeden jungen aufstrebenden
Arztes verwirklicht hatte: Seine Praxis florierte, er war mittlerweile
wohlhabend genug für den Erwerb eines großen Stadthauses, einer standesgemäßen
Kutsche und eines Landguts. Seine Patienten schätzten ihn als guten Arzt, und
auch sein Verhältnis zu den Regierenden der Stadt und den ärztlichen Kollegen
war ungetrübt.
Doch
dann kam das Jahr 1828 und damit die große Wende in Haass’ Leben – er wurde von
Generalgouverneur Golicyn als einer der ärztlichen Direktoren in das Moskauer
Gefängnisschutzkomitee berufen. Haass war erschüttert von den
menschenunwürdigen Zuständen, die in den städtischen Gefängnissen und in den
Sammelstellen für die Deportationen nach Sibirien herrschten. Ohne Zögern
machte er sich daran, das ihm Mögliche zu einer Verbesserung der Verhältnisse
umzusetzen. Bereits 1829 wurde ihm die ärztliche Oberaufsicht über die
Gesundheit der Deportierten übertragen.
In
den folgenden zehn Jahren bemühte er sich immer wieder, das Beste für seine
Schützlinge zu erreichen: Ob es sein Einsatz für leichtere und menschenwürdigere
Fesseln auf dem Fußmarsch war, die Verlängerung des Krankenhausaufenthalts
eines kranken Deportierten, eine Familienzusammenführung oder die Versorgung
mit Bibeln und Süßigkeiten für den Marsch – mit einer Mischung aus
medizinischer Begründung und moralischem Appell an die Verantwortlichen, mit
Bittbriefen, Eingaben bei Behörden und persönlichen Besuchen erreichte Haass
meistens das, was er wollte; und zwar ohne Rücksicht auf sich selbst, seine
Würde, Gesundheit oder finanzielle Lage. Gerade dieses unermüdliche, für die
Mächtigen Moskaus so unbequeme Engagement bescherte ihm jedoch auch viele
Feinde und führte dazu, dass er dieses Amtes 1839 wieder enthoben wurde – was
ihn nicht daran hinderte, bis zu seinem Tod 1853 damit inoffiziell
weiterzumachen.
1829
war Haass auch zum Chefarzt der Moskauer Gefängniskrankenhäuser berufen worden.
Auch hier tat er mit seinen unkonventionellen Methoden alles in seiner Macht
Stehende für seine Patienten und trieb zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen
unter anderem den Neu- und Umbau des Katharinen-Krankenhauses und den Bau eines
Obdachlosenkrankenhauses voran. Dort zog er 1845 auch selbst ein und verband
damit sein Leben endgültig untrennbar mit dem der Armen, Kranken und Hilflosen.
Immer
mehr war Haass als tiefgläubiger Christ um das seelische Heil der Gefangenen
und um ihre Rückkehr zu Gott besorgt. Sein ungebrochener Glaube an das Gute im
Menschen, gerade bei den Verbrechern in seiner Obhut, und die bedingungslose
Liebe, Güte und Nachsicht, mit der er ihnen stets begegnete, waren für ihn der
einzig richtige und glaubwürdige Weg, dies zu erreichen. So verschob sich im
Lauf der Jahre sein Fokus immer mehr hin zu einem eher seelsorgerischen Umgang
mit den Gefangenen und weg von ihrer rein ärztlichen Betreuung. Seine
medizinischen Behandlungen waren gegen Ende seiner ärztlichen Tätigkeit eher
veraltet und wurden von seinen Kollegen und auch den Moskauer Bürgern mehr
belächelt als tatsächlich für wirksam erachtet.
Friedrich
Joseph Haass starb nach kurzer Krankheit im August 1853. Er blieb, wie es auch
schon in der eingangs beschriebenen Szene anklingt, nach seinem Tod im
Gedächtnis der Menschen, die ihm begegnet waren, als der „heilige Doktor von
Moskau“ verhaftet: eine etwas kauzige und eigensinnige, jedoch von ungebrochenem
Eifer und schier grenzenloser Liebe beseelte und vom Volk verehrte
Persönlichkeit, die eine Berufung im Leben gesucht und mit ihrem Wirken für die
Armen und Gefangenen gefunden zu haben schien. Aufgrund seines Geburtsorts Bad
Münstereifel wurde 1998 vom zuständigen Erzbistum Köln das
Seligsprechungsverfahren eröffnet. Dieses ist nach Durchlaufen von
verschiedenen vorgeschriebenen Stadien (Zeugeneinvernahme, Bildung einer
Historikerkommission, Sammlung der Schriften des „heiligen Doktors“) noch nicht
abgeschlossen.
Katharina
Pfeifer, Universität Regensburg
Prof.
Dr. Dr. Werner E. Gerabek, Institut für Geschichte der Medizin Universität
Würzburg
Quelle: THEMEN DER ZEIT
Deutsches
Ärzteblatt 2008; 105(10): A-518 / B-466 / C-454
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