Niemand weiß mehr genau, welches Jahr die Chronisten der
Welt in ihren Büchern verzeichneten, als ein junger Mönch mit Namen Laurentius
in einem Kloster unweit von Trier lebte. Doch es mag um das Jahr 1600 gewesen
sein. Jenes Kloster erhob sich in stattlicher Höhe über dem Moseltal inmitten
einer gottgesegneten Landschaft.
Laurentius hatte nach dem Geheiß seines Vaters in jungen
Jahren die Weihen genommen und sich willig, mit der Geduld des wahrhaft frommen
Menschen in die Gemeinschaft der Brüder eingelebt. Er lebte unter
seinesgleichen voll sanfter Zurückhaltung und einer ungezwungenen
Leidenschaftslosigkeit. Sein gütiges Wesen, die Art, wie er im Gespräch die
Worte zu setzen, und der Eifer, mit dem er zu arbeiten wusste, trugen ihm
beizeiten die besondere Liebe und Zuneigung des Priors ein. Keines anderen
Stimme war beim abendlichen Tedeum so erfüllt von Inbrunst und Fröhlichkeit wie
die seine.
Nächtelang studierte er alte Schriften und übertrug Teile
daraus mit schönen und klaren Lettern in ein selbstgebundenes Buch. Da er zudem
von je eine starke Neigung zur Musik besessen hatte, übte er sich im Lesen und
Niederschreiben von Noten, und wenn er, wie es nicht selten geschah, die Orgel
spielte, flossen die Melodien so ineinander, dass er manchmal nicht zu
unterscheiden wusste, welche davon er selber erdacht und welche er von alten
Meistern übernommen hatte.
An einem Weihnachtsmorgen hatte Laurentius sich früh von
seinem Lager erhoben; denn es waren viele Pilger zu erwarten, die alljährlich
ins Kloster kamen, um dort die Christmette zu hören. Da der junge Mönch das Amt
des Pförtners innehatte, war es sein Dienst, dafür zu sorgen, dass niemand vor
dem Tor unnötig zu warten brauchte.
Aber noch war es dunkel draußen, und keine Menschenseele
rührte sich. In der Nacht hatte es unaufhörlich geschneit. Laurentius trat die
ersten Spuren in den frischen Schnee, als er den Klostergarten durchquerte, um
zur Pforte zu gelangen. Ein blasser, dunstiger Mond erhellte den Himmel. Auf
dem Rückweg kam Laurentius am Brunnen vorüber. Als er sich über dessen Rand
beugen und auf den Grund hinabschauen wollte, wie er es gern tat, um dem
rieselnden Laut des Wassers zu lauschen, fiel sein Blick unversehens auf einen
Rosenstrauch zu Füssen der Brunnenmauer.
Was er plötzlich sah, ließ ihn für
eine Weile vor Freude und Erstaunen den Atem verhalten. Zwischen den kahlen,
froststarrenden Zweigen des Strauches wuchs ein grünes Reis auf, und an seinem
Ende erblühte in makelloser Schönheit eine Rose.
Sein Staunen wich tiefer Ergriffenheit. „Seltsam“, dachte Laurentius, „eine blühende Rose mitten im
kalten Winter!“ Er brach sie behutsam und sog ihren Duft ein. Als er
gewahr wurde, dass die ersten Pilger sich näherten, verließ er den Platz, wo er
des Wunders teilhaftig geworden war, und gesellte sich zu den Brüdern in die
Kapelle. Dort legte er, von niemandem bemerkt, die Rose unter das Bild der
Gottesmutter.
Und abermals geschah ein Wunder. Wäre Laurentius von geringem
Glauben gewesen, würde er es für einen Zufall gehalten haben, dass just in dem
Augenblick, da er sich in das Gebet der Gemeinde eingefügt hatte, der Priester
das Schriftwort Jesaias sprach: „Es wird ein Zweig aufsprießen vom Stamme
Jesses.“
Laurentius fühlte seine Seele von einem großen Glück
durchflutet. Ja, er war ausgezeichnet worden vor allen anderen!
Die Christmette war vorüber, und die Pilger begannen sich
zu zerstreuen. Es war inzwischen Tag geworden. Das Licht drang mit matten
Farben durch die Fenster der Kapelle. In Gedanken verstrickt, schritt
Laurentius vom Chorgestühl zum Lettner empor. Während er ging, sprach er Worte
vor sich hin, die unablässig aus seinem Inneren aufstiegen. Die Worte fügten
sich zu Zeilen, die Zeilen verbanden sich zu Versen:
„Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart
...“
Er ließ sich auf der Orgelbank nieder. Den Orgelbuben,
der sich gerade entfernen wollte, wies er an, noch einmal die Bälge zu treten.
Und dann spielte und sang der Mönch das neugeborene Lied. Einige Gläubige, darunter
eine Schar Kinder, kehrten in die Kapelle zurück und lauschten der wunderbaren,
nie gehörten Weise. Da der Spieler sie einige Male wiederholte, ging sie jedem
so ein, dass er sie bald mühelos mitsingen konnte. In dieser Stunde also trat
das Lied in die Welt, das seither nicht mehr aus ihr fortzudenken ist:
Es ist ein' Ros' entsprungen
Es Ist ein' Ros' entsprungen
aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art.
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter,
wohl zu der halben Nacht
Das Röslein, das ich meine,
davon Jesaja sagt,
hat uns gebracht alleine,
Marie, die reine Magd;
Aus Gottes ew’gem Rat
Hat sie ein Kind geboren
Wohl zu der halben Nacht.
Das Blümelein so kleine,
das duftet uns so süß,
mit seinem hellen Scheine
vertreibt’s die Finsternis:
Wahr’ Mensch und wahrer Gott,
hilft uns aus allem Leide,
rettet von Sünd’ und Tod.
Aus „Brasil-Post“ Nr. 1566 São Paulo, Brasilien (1950er
Jahre)
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