Der Grundsatz, dass Staat und Kirche getrennt werden müssen, ist fürwahr vollständig falsch und im höchsten Grade verderblich. - Denn wer sich zur Auffassung bekennt, dass der Staat sich in keiner Weise um die Religion kümmern dürfe, fügt erstens Gott eine große Beleidigung zu, der ebenso Begründer und Erhalter der menschlichen Gesellschaft wie des Lebens der einzelnen Menschen ist. Deshalb kann sich der Kult nicht in den Bereich des Privatlebens zurückziehen, sondern er muss ein öffentlicher sein. – Ferner liegt diesem Grundsatz deutlich die Leugnung des Übernatürlichen zugrunde. Denn hierbei werden die staatlichen Unternehmungen ausschließlich nach der Wohlfahrt dieses sterblichen Lebens bemessen, die lediglich die nächste Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft ist. Die höchste Angelegenheit der Bürger aber, die ewige Seligkeit, die jenseits des kurzen Erdenlebens auf uns wartet, vernachlässigt er vollständig als eine dem Staat fremde Sache. Und doch sollte das Staatswesen gemäß der Gesamtordnung der vergänglichen Dinge für die Erreichung des absoluten, höchsten Gutes nicht hinderlich, sondern förderlich sein. – Sodann durchbricht er die von Gott mit höchster Weisheit getroffene Ordnung der menschlichen Dinge, die ohne Zweifel die Eintracht zwischen der religiösen und der bürgerlichen Gesellschaft fordert. Denn da beide, wiewohl auf getrenntem Gebiete jede für sich, doch eine Herrschaft über dieselben Menschen ausüben, so müssen sie oft Fragen in Angriff nehmen, deren Beurteilung und Lösung beide Teile betrifft. Wo nun der Staat mit der Kirche keine Beziehungen unterhält, da werden solche Fragen leicht zum Anlass von Streitigkeiten, die für beide Teile recht bitter sind und - was die Geister nicht wenig bedrückt – den Sinn für die Wahrheit trüben. Das hat schließlich auch für den Staat sehr große Nachteile im Gefolge. Bei Zurücksetzung der Religion kann die bürgerliche Gesellschaft nicht blühen, noch festen Bestand haben. Jene ist nämlich die oberste Führerin und Lehrerin der Menschen für die gewissenhafte Beobachtung von Recht und Pflicht.
Aus der Enzyklika „Vehementer Nos esse“ vom hl. Pius X., vom 11. Februar 1906
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