Sensus fidei: Die Gesamtheit der Glaubenden kann nicht irren. Doch was heißt das? Eine Begriffsklärung. Von Walter Kardinal Brandmüller:
Welches Gewicht kommt der Stimme der Gläubigen in Sachen der Glaubenslehre zu – und wir stellen die Frage angesichts einer die Kirche von heute zutiefst erschütternden Glaubenskrise?...
Es ist Kardinal Newman, der unseren Blick auf die Arianismus-Krise des 4. Jahrhunderts lenkt. In dieser Situation, in der es um die wesensgleiche Gottheit Jesu mit dem Vater ging, in welcher tatsächlich Sein oder Nichtsein der Kirche auf dem Spiel stand, versagten die Bischöfe weithin. „Sie sprachen uneinheitlich, einer gegen den anderen; nach Nicæa gab es fast 60 Jahre kein festes, beständiges, konsequentes Zeugnis.“ Während nun der Episkopat verunsichert und gespalten war, „wurde die der unfehlbaren Kirche anvertraute göttliche Tradition weitaus mehr durch die Gläubigen als durch den Episkopat verkündet und aufrechterhalten“. So Newman: „Aber ich behaupte, dass in dieser Zeit der ungeheuersten Verwirrung das erhabene Dogma von der Göttlichkeit unseres Heilandes weit mehr von der ,Ecclesia docta‘ (Gläubige) als von der ,Ecclesia docens‘ (Theologen) verkündet ... und bewahrt wurde; dass die Gesamtheit des Episkopats als Körperschaft ihrem Amt untreu war, während der Laienstand als Ganzes seiner Taufgnade treu blieb...“.
Nun aber lehrt die Erfahrung der Geschichte ebenso, dass die Wahrheit nicht notwendig bei der Mehrheit, bei der großen Zahl zu finden ist. Was etwa war zu sagen, als der päpstliche Nuntius Hieronymus Aleander vom Wormser Reichstag des Jahres 1521 berichtete, neun Zehntel der Deutschen schrien „Luther“ und „Tod der Römischen Kurie“? Was ist zu sagen, wenn in unseren Tagen Pfarrgemeinden lautstark einem Priester applaudieren, der in der Predigt seine bevorstehende Hochzeit ankündigt? Was ereignete sich, als der Deutsche Katholikentag des Jahres 1968 mit Exzessen von Protest, ja Hass auf die Enzyklika Humanae vitae reagierte? War – und ist – in solchen Fällen tatsächlich der aus der göttlichen Tugend des Glaubens genährte sensus fidei, der consensus fidelium, am Werk? In diesen und vielen ähnlichen Fällen wird deutlich, dass der consensus fidei fidelium eben nicht mit der Volonté generale von Rousseau vergleichbar ist. Wenn also Katholiken en masse etwa Wiederheirat nach Ehescheidung, wenn sie Empfängnisverhütung für erlaubt halten, oder mehr dergleichen, dann wäre dies kein Massenzeugnis für den Glauben, sondern Massenabfall vom Glauben. Der sensus fidei ist keine demokratisch, demoskopisch zu ermittelnde Größe. Die Frage ist nur, worin sich Massenzeugnis von Massenabfall unterscheidet...
Hier sei nur auf die notwendige Widerspruchslosigkeit im Verhältnis zur authentischen Überlieferung hingewiesen... Das heißt, dass nicht ein jeder, der sich als Katholik bezeichnet, den Anspruch erheben kann, als Organ dieses Sensus fidei ernst genommen zu werden... (Anmerkung: Es muss also Übereinstimmung mit der Glaubensüberlieferung herrschen!)
Kurz gesagt: „Authentische Teilhabe am sensus fidei erfordert Heiligkeit. Heilig zu sein bedeutet im Wesentlichen, getauft zu sein und den Glauben in der Kraft des Heiligen Geistes zu leben.“ Damit ist allerdings ein hoher Anspruch definiert... Auf eine meines Erachtens ... authentischere Weise kommt der sensus fidei fidelium in spontanen Kundgebungen zum Ausdruck. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bieten die Massendemonstrationen „Manif pour tous“ in Frankreich. Bemerkenswert auch die Teilnahme von Hunderttausenden von Gläubigen an den Märschen für das Leben... Dies sind die Formen, in denen sich heute der sensus fidei, der Glaubensinstinkt des gläubigen Volkes, manifestiert
Quelle: Tagespost vom 04. April 2018, hier: stark gekürzt
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