Georg Alois Oblinger
Viele Jahre durfte ich in Lindau am Münster Unserer Lieben Frau als Pfarrer wirken. In der jüngeren Vergangenheit dieser sehenswerten Kirche gab es ein bedeutendes Ereignis, das ich bei jeder Kirchenführung erzählte: In der Nacht von Sonntag, dem 28. September, auf Montag, dem 29. September 1987, ist die Decke der Kirche herabgestürzt. Zum Glück kam kein Mensch zu Schaden, aber das Kircheninnere glich einem Trümmerfeld. Für die Dauer von fünf Jahren war dort kein Gottesdienst möglich. Dankenswerterweise gewährte uns die benachbarte evangelische Kirche St. Stephan Gastfreundschaft.
Beim Wiederaufbau der Kirche stellte sich nun die Frage, wie die Decke künftig aussehen sollte. In den achtziger Jahren ließ man sich beim Kirchenbau meist vom Motiv der Schlichtheit leiten. So war auch zunächst eine komplett weiße Decke geplant. Doch gab es damals in Lindau den sehr kunstsinnigen Pfarrer Heribert Stein er, der sich dem widersetzte und der sich für eine Wiederherstellung des ehemaligen Gemäldes im barocken Stil einsetzte. Wenn Besucher des Gotteshauses sich heute an der Schönheit dieser Kirche freuen und den harmonischen Gesamteindruck loben, so ist dies das Verdienst meines Vor-Vorgängers Pfarrer Steiner, der sich dem Zeitgeist und der Mehrheitsmeinung widersetzte.
In Frankreich stellen sich jetzt ganz ähnliche Fragen. Im Juli 2020 brannte die Kathedrale von Nantes und schon im April 2019 die Pariser Kathedrale Notre Dame. Einen sehr schnellen Wiederaufbau hat Staatspräsident Emmanuel Macron angekündigt. Auch er denkt an fünf Jahre. Auch hier stellt sich die Frage nach dem „wie“. Architekten waren mit ihren Vorstellungen sehr schnell zur Stelle. Man müsse den heutigen Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragen. Gedacht war unter anderem an einen Swimmingpool und eine Cafeteria auf dem Dach der Kathedrale. Doch Macron hat kürzlich ein Machtwort gesprochen und sich für einen originalgetreuen Wiederaufbau ausgesprochen. Vor allem Chefarchitekt Philippe Villeneuve sieht die Architektur, auch die Sakralarchitektur des 20. Jahrhunderts, sehr kritisch. Er hat aus den Fehlern der letzten Jahrzehnte gelernt und möchte an die Baukunst des Mittelalters anknüpfen.
Im Monat Oktober feiern wir den Kirchweihsonntag. Gerade in diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf die derzeitige Kirche und ihren Zustand. Natürlich spreche ich von der Kirche als geistigem Haus aus „lebendigen Steinen“ (1 Petr 2,5). Dass es in Trümmern liegt, dürfte nicht nur für Gläubige sondern für jeden klar denkenden Menschen offensichtlich sein. Die sinkenden Zahlen von Gottesdienstbesuchern und Priesterberufungen sind nur die Spitze des Eisbergs. Generell ist ein starker Rückgang von Glaubenswissen und Glaubenspraxis zu beobachten. Auch alle Vertreter der Kirche sehen dies. Dass wir in dieser Situation unbedingt etwas tun müssen, ist ebenfalls Jedem klar. Viele versuchen es wie die modernen Architekten mit neuen Formen. Der „Synodale Weg“ oder die Bewegung „Maria 2.0“ sind solche Versuche, mit neuen Inhalten die Menschen zurückzugewinnen. Doch sie scheinen genau so wenig zum Ziel zu führen, wie die Versuche der Architekten in der jüngeren Vergangenheit. Nicht selten entstand betonierte Hässlichkeit, die schon bald abbruchreif war.
Die Sainte Chapelle von Paris, der Schrein der Hl. Dornenkrone Jesu Christi |
Das Äußere einer Kirche und ihr Inneres, ihre Glaubenssubstanz, ihre Strukturen, ihre Liturgie entsprechen einander. (S.Bild) Die zerstörte Pariser Kathedrale Notre Dame ist ein Sinnbild für unsere Zeit und die Diskussion um ihren Wiederaufbau spiegelt die Diskussion um den geistigen Wiederaufbau unserer katholischen Kirche wider. Von den verfehlten Plänen in Paris aber letztendlich auch von den jetzt vermiedenen Fehlern können wir lernen. Die Kirche hat eine klare Struktur und nur so ist sie ein harmonisches Ganzes. Eine Anpassung an den Zeitgeist wird sie gewiss nicht attraktiver machen.
Quelle: Der Fels, Oktober 2020.
S. 287
Eichendorfer Str. 17, D-86916 Kaufering.
Redaktion: Hubert.Gindert@der–fels.de
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