Der Legende nach erreichte im XI. oder XII. Jahrhundert
eine auf den Wellen schwimmende Ikone das Ufer des Athos in der Nähe des
Klosters Iviron. Das Bild stellt die Muttergottes dar, in einer Hand das
königliche Kind haltend und mit der anderen Hand ihren Sohn als „den Weg,
die Wahrheit und das Leben“ bezeichnend.
Mönche, die das Bild fanden, trugen es in die Kirche „Katholikon“, die sich im Zentrum des klösterlichen Gebäudes
befindet. Am nächsten Tag aber war die Ikone verschwunden. Man fand sie an der
Schwelle des großen Tores. Nachdem sich wiederholte, errichtete man an dieser
Stelle für sie ein kleines Heiligtum und gab ihr den Namen „Portaitissa“:„Jene, die die Schwelle bewacht“.
Jahrhunderte vergehen ... Um 1980 wird in einer Einsiedelei,
in jener der Nativität, ein Atelier für Ikonenmalerei eröffnet. Die erste
Ikone, die hier gemalt wurde, war eine freie Nachbildung der „Portaitissa“.
Zu diesem Zeitpunkt trifft Jose Munos aus Chile, ein zum
orthodoxen Glauben übergetretener, in Montreal lebender Professor für
Kunstgeschichte, auf den Berg Athos ein, um mit einem Kloster der Ikonographie
in Verbindung zu treten. Er entdeckt die Einsiedelei der Nativität, besucht das
Atelier und bleibt erschüttert vor dem Bild der "Portaitissa" stehen.
Es kommt vor, dass man beim Anblick einer Ikone das Gefühl hat, als begegnete
man jemandem, der einen liebt und den man wiederliebt: eine Offenbarung, eine,
Vision. Die klösterliche Sittsamkeit macht für diese „spirituellen
Blitzschläge“ empfänglich.
Jose Munos bittet seine Gastgeber flehentlich, ihm die
Ikone, die ihn so aus Fassung gebracht hat zu verkaufen. Das ist unmöglich,
antworten sie ihm, sie war die erste, die in diesem Atelier gemalt wurde. Sie
ist sozusagen die Schutzpatronin des Ateliers.
Währen des nächtlichen Gottesdienstes wird die Hymne
„Axion estin“ gesungen: "Es ist wahrhaft würdig, o Mutter Gottes, dich zu
lobpreisen.“ Lange kniet Jose Munos im Gebet zu Füßen der heiligen Jungfrau.
Der Friede kehrt in sein Herz zurück. Im Morgengrauen steigt er zur Küste
hinab, wo ein Schiff auf ihn wartet. Plötzlich hört er seinen Namen rufen: Es
ist der Superior, er bringt ihm die gut verpackte Ikone. Letzte Nacht hat er
einen inneren Befehl erhalten. „Diese Ikone“, sagt er, „wäre ein
Zeichen für den Westen“. Er will kein Geld, es ist ein Geschenk, eine Gnade.
Jose Munos kehrt in das Kloster Iviron zurück und dort
gewährt man ihm die Bitte, diese Ikone mit dem Original, ihrem Modell, zu
berühren ... Religion des Volkes, Welt der Sinne, wo die Magie der Liebe
herrscht. Man verehrt eine Ikone, indem man sie küsst, indem man sie einen
Augenblick mit seiner Stirne berührt, man stellt zwischen einer Kopie und ihrem
Original einen Kontakt her ...
Nun ist die Ikone in Montreal, im Zimmer von Jose Munos.
Ende November, mitten in der Nacht, wird er von einem intensiven Duft geweckt,
einem Duft von Rosen oder, genauer gesagt, dem Duft des heiligen Salböls, das
für das Weihesakrament verwendet wird. Dieser Chrisam oder Myrrhon ist eine
wunderbare Zusammensetzung von Düften.
Jose Munos stellt in dieser Novembernacht des Jahres 1982
fest, dass dieser Duft aus der Ikone strömt, aus einer Art Öl, das sie
ausschwitzt, feine Chrisamrinnsale, die aus den Händen des Jesuskindes tropfen.
Die Ikone wird feierlich zur kleinen Kathedrale von
Montreal gebracht und hat seither nicht aufgehört, dieses geheimnisvolle Öl
auszuschwitzen. Man sammelt es in Baumwolltüchlein und verteilt es unter den
Gläubigen. Ein kleines Fleckchen davon genügt, um einen ganzen Raum damit mit
Wohlgeruch zu erfüllen und manchmal eine Seele.
Jose Munos, schüchterner Wächter der „Portaitissa“, reist
mit der Ikone auch manchmal über die Meere, in Pfarren und Klöster, denen er
sich zugehörig fühlt. Die Ikone selbst aber gehört niemand.
Die Katholiken in Quebec haben Ikonen gerne.
Reproduktionen der „Portaitissa“ auf Holz sind sehr verbreitet, zu Hunderten,
in Kirchen und katholischen Familien.
(entnommen aus MDNgerman, Eine Minute mit Maria, Olivier
Clement „France cotholique“ in „Betendes Gottesvolk“ 2010/3)
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