Montag, 29. September 2014

Der Duft der Ikone


Der Legende nach erreichte im XI. oder XII. Jahrhundert eine auf den Wellen schwimmende Ikone das Ufer des Athos in der Nähe des Klosters Iviron. Das Bild stellt die Muttergottes dar, in einer Hand das königliche Kind haltend und mit der anderen Hand ihren Sohn als „den Weg, die Wahrheit und das Leben“ bezeichnend.
Mönche, die das Bild fanden, trugen es in die Kirche „Katholikon“, die sich im Zentrum des klösterlichen Gebäudes befindet. Am nächsten Tag aber war die Ikone verschwunden. Man fand sie an der Schwelle des großen Tores. Nachdem sich wiederholte, errichtete man an dieser Stelle für sie ein kleines Heiligtum und gab ihr den Namen „Portaitissa“:„Jene, die die Schwelle bewacht“.
Jahrhunderte vergehen ... Um 1980 wird in einer Einsiedelei, in jener der Nativität, ein Atelier für Ikonenmalerei eröffnet. Die erste Ikone, die hier gemalt wurde, war eine freie Nachbildung der „Portaitissa“.
Zu diesem Zeitpunkt trifft Jose Munos aus Chile, ein zum orthodoxen Glauben übergetretener, in Montreal lebender Professor für Kunstgeschichte, auf den Berg Athos ein, um mit einem Kloster der Ikonographie in Verbindung zu treten. Er entdeckt die Einsiedelei der Nativität, besucht das Atelier und bleibt erschüttert vor dem Bild der "Portaitissa" stehen. Es kommt vor, dass man beim Anblick einer Ikone das Gefühl hat, als begegnete man jemandem, der einen liebt und den man wiederliebt: eine Offenbarung, eine, Vision. Die klösterliche Sittsamkeit macht für diese „spirituellen Blitzschläge“ empfänglich.
Jose Munos bittet seine Gastgeber flehentlich, ihm die Ikone, die ihn so aus Fassung gebracht hat zu verkaufen. Das ist unmöglich, antworten sie ihm, sie war die erste, die in diesem Atelier gemalt wurde. Sie ist sozusagen die Schutzpatronin des Ateliers.
Währen des nächtlichen Gottesdienstes wird die Hymne „Axion estin“ gesungen: "Es ist wahrhaft würdig, o Mutter Gottes, dich zu lobpreisen.“ Lange kniet Jose Munos im Gebet zu Füßen der heiligen Jungfrau. Der Friede kehrt in sein Herz zurück. Im Morgengrauen steigt er zur Küste hinab, wo ein Schiff auf ihn wartet. Plötzlich hört er seinen Namen rufen: Es ist der Superior, er bringt ihm die gut verpackte Ikone. Letzte Nacht hat er einen inneren Befehl erhalten. „Diese Ikone“, sagt er, „wäre ein Zeichen für den Westen“. Er will kein Geld, es ist ein Geschenk, eine Gnade.
Jose Munos kehrt in das Kloster Iviron zurück und dort gewährt man ihm die Bitte, diese Ikone mit dem Original, ihrem Modell, zu berühren ... Religion des Volkes, Welt der Sinne, wo die Magie der Liebe herrscht. Man verehrt eine Ikone, indem man sie küsst, indem man sie einen Augenblick mit seiner Stirne berührt, man stellt zwischen einer Kopie und ihrem Original einen Kontakt her ...
Nun ist die Ikone in Montreal, im Zimmer von Jose Munos. Ende November, mitten in der Nacht, wird er von einem intensiven Duft geweckt, einem Duft von Rosen oder, genauer gesagt, dem Duft des heiligen Salböls, das für das Weihesakrament verwendet wird. Dieser Chrisam oder Myrrhon ist eine wunderbare Zusammensetzung von Düften.
Jose Munos stellt in dieser Novembernacht des Jahres 1982 fest, dass dieser Duft aus der Ikone strömt, aus einer Art Öl, das sie ausschwitzt, feine Chrisamrinnsale, die aus den Händen des Jesuskindes tropfen.
Die Ikone wird feierlich zur kleinen Kathedrale von Montreal gebracht und hat seither nicht aufgehört, dieses geheimnisvolle Öl auszuschwitzen. Man sammelt es in Baumwolltüchlein und verteilt es unter den Gläubigen. Ein kleines Fleckchen davon genügt, um einen ganzen Raum damit mit Wohlgeruch zu erfüllen und manchmal eine Seele.
Jose Munos, schüchterner Wächter der „Portaitissa“, reist mit der Ikone auch manchmal über die Meere, in Pfarren und Klöster, denen er sich zugehörig fühlt. Die Ikone selbst aber gehört niemand.
Die Katholiken in Quebec haben Ikonen gerne. Reproduktionen der „Portaitissa“ auf Holz sind sehr verbreitet, zu Hunderten, in Kirchen und katholischen Familien.

(entnommen aus MDNgerman, Eine Minute mit Maria, Olivier Clement „France cotholique“ in „Betendes Gottesvolk“ 2010/3)


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