Die Evangelien, die das Leben des Heilands so
genau erzählen. haben nur wenige Einzelheiten aus dem Leben der allerseligsten
Jungfrau Maria festgehalten. Sie berichten nichts über ihre Unbefleckte
Empfängnis, über ihre Geburt, über ihre Kindheit im Tempel von Jerusalem. Mit
Wohlgefallen lassen sie sich über die wundervollen Szenen der Verkündigung und
der Heimsuchung aus; dies sind aber auch schon die einzigen Geheimnisse, in
denen Maria den ersten Platz einnimmt.
Danach
finden wir in den Berichten der Evangelisten nur äußerst beiläufige Hinweise
auf die Rolle Marias. Wir sehen sie, wie sie den neugeborenen Sohn den armen
Hirten und den Drei Königen hinhält, wie sie später in aller Eile mit dem
Jungen nach Ägypten aufbricht. Nur einige kurze Anmerkungen beziehen sich auf
das lange Zusammenleben mit dem göttlichen Meister in dem kleinen Haus in Nazareth.
Wenn der
Herr schließlich seine öffentliche Sendung beginnt, tritt die Gestalt Mariens
fast völlig in diskreten Schatten. Einen Augenblick lang treffen wir sie auf
der Hochzeit von Kana wieder. Ein oder zwei Mal erwähnen die heiligen
Schriftsteller dann, daß sie demütig der Predigt ihres Sohnes beiwohnt. Und
schließlich finden wir sie wieder während der tragischen Ereignisse der
Leidensgeschichte unter dem Kreuz.
Das ist
alles, was uns die Evangelien über Maria berichten. Glaubt ihr nicht, daß
unsere Frömmigkeit einen großen Gewinn davontragen würde, wenn wir mehr über
ein so bewegendes Thema erführen?
Auch die Kirchenväter haben nach dem Grund
dieses befremdlichen Schweigens gefragt. Und sie kamen übereinstimmend zu dem Schluß,
das der heilige Matthäus damit, daß er den Stammbaum des Erlösers festhielt, in
einer einzigen Linie all die Größe und den Ruhm Unserer Lieben Frau vereinigt
hat. „Von Jakob stammte Josef“, sagt der heilige Text, „der Mann Marias, von
der geboren wurde Jesus genannt Christus“. Jacob
autem genuit Josef, virum Mariae de qua natus est Jesus, qui vocatur Christus. (1)
Wenn ihr
die Königin des Himmels besser kennen lernen wollt müßt ihr euch mit frommer
Aufmerksamkeit in ihr einzigartigste~ Privileg vertiefen: in ihre
Gottesmutterschaft.
* * *
Ich will
keineswegs die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten vor euch verstecken, die
.ein so erhabenes Thema mit sich bringt. Bevor. ich näher darauf eingehe,
wollte ich einige Stellen aus den zahlreichen Reden nachlesen, mit denen die
Kirchenlehrer auf dieses Thema eingegangen sind. Und zu meiner Überraschung
mußte ich feststellen, daß sie sich angesichts einer solchen Größe von einer
ungeheuren Mutlosigkeit erfaßt fühlten. Gibt es denn Worte, die stark genug,
und Vergleiche, die klar genug sind, um dieses Wunder völlig verständlich zu
machen?
Der
heilige Epiphanius, einer der größten Lichter des Orients geht alle Glorien des
Himmels durch. Nacheinander erforscht er die Chöre der Enge! und die verschiedenen
Kategorien von Heiligen und kommt schließlich zu der Überzeugung: „Die Mutter
des Wortes aber steht unvergleichlich höher als sie alle. Gott ausgenommen
steht sie über allem. Keine Menschenzunge vermag ihr Lob angemessen zu
besingen. (2)
Der heilige Thomas von Aquin, der
unumstrittene Meister der katholischen Theologie, lehrt uns, daß die
Gottesmutterschaft Maria eine unendliche Würde verleiht. Er zeigt uns, daß die
Gottesmutter auf ihrem Höhenflug die Grenzen der Göttlichkeit berührt. „Ad
fines divinitatis propria operatione attigit.“ (3)
Ein
Abgrund trennt uns vom Allerhöchsten. Denn wir sind reines Nichts. Seit aller
Ewigkeit lebt er in einem unseren Augen unzugänglichen Licht. Während wir
nichts aus uns selbst vermögen, erschafft er die Welten mit einem einzigen
Wort. Er verlangt zwar unsere Anbetung, weist aber von vornherein darauf hin,
daß ihm diese keinerlei Nutzen bringt „Glaubt ihr etwa“, sagte er zu einem
seiner Propheten, „daß ich das Blut der Ziegen und Lämmer nötig habe, die ihr
in meinem Tempel opfert?“ (4)
Nun wollte
aber dieser von seinen Geschöpfen unabhängige Gott die allerseligste Jungfrau
Maria nötig haben, um durch sie die großen Pläne seiner Barmherzigkeit
auszuführen. Und er sandte ihr den Engel Gabriel, um sie um ihre Zustimmung zum
Werk der Menschwerdung zu bitten.
Dieser so unendlich von unserer Kleinheit
entfernte Gott wollte Beziehungen zu Maria herstellen und zwar so enge
Beziehungen, daß sie, wenn ich es so ausdrücken darf, als einzige bis in die
Tiefe der Allerheiligsten Dreifaltigkeit vordringt.
Der
Heilige Geist, der durch sein wunderbares Eingreifen ihre unvergleichliche
Jungfräulichkeit fruchtbar werden ließ, machte sich zu ihrem Bräutigam.
Das Ewige
Wort entnahm ihrer Substanz seinen heiligsten Leib und sein unendlich kostbares
Blut. Als er in der Grotte von Bethlehem zur Welt kam, wurde er Monate lang von
der Gottesmutter genährt. Eine wahrhaft bezaubernde Wahrheit: „Das Fleisch
Christi“, ruft der heilige Augustinus aus, „ist das Fleisch Mariens!“ Caro
Christi, caro Mariae. Und da die Züge der Kinder sehr oft die Züge der
Mutter widerspiegeln, wollte der Erlöser, das schönste aller Menschenkinder,
sehr wahrscheinlich der Unbefleckten Jungfrau ähnlich sehen.
Schließlich
hat die Himmelskönigin Anteil an den Ehren des Vaters. Der Vater, der ewig sein
Wort hervorbringt, hat zu Jesus gesprochen: „Du bist mein Sohn; auf dir ruht
all mein Wohlgefallen.“ (5) Maria hat dem Herrn nicht seine göttliche Natur
geschenkt, aber sie hat seiner Göttlichkeit einen sterblichen, dem unsrigen
ähnlichen Körper gegeben. Nur sie kann mit dem Vater zu Jesus, dem unsterblichen
König der Jahrhunderte, das Wort sagen, das die seligen Bewohner des Paradieses
mit Staunen erfüllt hat: „Du bist wirklich mein Sohn; ich habe dir dein
menschliches Leben geschenkt und auf dich, den Geliebten meines Herzens, alle
Kräfte meiner Zärtlichkeit vereinigt.“
* * *
Infolge ihrer Gottesmutterschaft besitzt die
allerseligste Jungfrau Maria unbestreitbare Rechte auf den Erlöser.
Vor allem
besitzt sie Rechte auf seinen Willen. Der Jesusknabe mußte Maria gehorchen: Die
Evangelien bringen uns dies ausdrücklich in Erinnerung; sie zeigen ihn uns in
Nazareth, seiner Mutter und seinem Stiefvater untertan. Et erat suhditus
illis. (6)
Man
braucht jedoch nicht zu übertreiben. Der Heiland hatte vom Allerhöchsten einen
Auftrag erhalten, der über der Autorität der Gottesmutter stand. Als er im
Alter von zwölf Jahren bei den Schriftgelehrten im Tempel zurückblieb, hat er
seinen Eltern nicht Bescheid gegeben. Damit wollte er uns deutlich machen, daß
seine Mutter nicht in allen Dingen über ihn gebieten konnte. Sie bewahrte aber
einen ungeheuren Einfluß auf seinen anbetungswürdigen Willen. Hat er in Kana
nicht auf ihre Bitte hin sein erstes Wunder gewirkt?
Die
allerseligste Jungfrau Maria besitzt auch Rechte auf das Herz ihres Sohnes;
diese Rechte sind unvergänglich. Wie auf Erden zollt Jesus seiner Mutter auch
im Himmel allen Respekt und alle Zärtlichkeit eines Kindes. Es ist demnach
unmöglich, daß er ihr die Erfüllung Ihrer Wünsche versagt. Es ist undenkbar,
daß er unsere Gebete abweist, wenn wir sie im Namen der Liebe unterbreiten, die
er seiner Mutter schuldet und stets schulden wird.
* * *
Was für Gefühle sollte uns dieses Privileg
eingeben, das die allerseligste Jungfrau über alle Geschöpfe erhebt?
An erster
Stelle soll es uns Anerkennung einflößen. Wir leben in einer Fülle
übernatürlicher Güter, wie sie die Seelen des Altertums nicht besaßen. Wenige
Tage nach unserer Geburt hat man uns zur Kirche gebracht, wo uns das geweihte
Wasser der Taufe zu Gotteskindern gemacht hat. Wenn die Last unserer Vergehen
zu schwer auf unserem Gewissen liegt, gehen wir zum Priester und legen ihm
unsere Skrupel und unsere Reue zu Füßen; dann erheben wir uns mit erleichterter
Seele und gehen hinweg mit der Sicherheit, daß wir Vergebung erhalten haben.
Wenn wir in der Versuchung Kraft, im Schmerz Trost brauchen, knien wir vor dem
Altar nieder, in dem Jesus in Wahrheit gegenwärtig ist, um uns sein Herz zu
öffnen. Im Tabernakel wartet er ungeduldig darauf, daß wir ihm die
Gastfreundschaft unserer so gebrechlichen und elenden Seelen anbieten. Diese
Gnaden, die sich wie ein Strom über die Erde ergießen, sind stets zu unserer
Verfügung; wir brauchen nur einen Schritt zu tun und schon überfluten sie uns.
Habt ihr
schon einmal daran gedacht, daß ihr dies der Gottesmutterschaft Mariens
verdankt? Habt ihr auch nicht vergessen, ihr dafür eure Dankbarkeit zum
Ausdruck zu bringen?
Der Herr
hatte einmal zehn Leprakranke geheilt. Die glücklichen Wunderempfänger machten
sich sofort auf den Weg, um sich den Priestern zu zeigen, wie es das Gesetz
Moses' befahl; nur einer kehrte mitten auf dem Weg um seinem Wohltäter zu
danken. „Sind nicht zehn rein geworden?“, fragte daraufhin der Heiland, „Wo
sind denn die übrigen neun?“(7) - Könnte sich die allerseligste Jungfrau nicht
ebenso beklagen? „Ich habe diesen Seelen Jesus geschenkt, und sie vergessen,
daß sie ihn von mir bekommen haben.“
Danken wir
darum heute der Gottesmutter, danken wir ihr oft für das, was sie für uns getan
hat. Diese so einfache Übung wird reichen Segen auf uns ziehen.
Die
Gottesmutterschaft soll uns auch ein grenzenloses Vertrauen einflößen. Maria
ist überaus mächtig und gütig: Gewöhnen wir uns daher daran, sie häufig zu
bitten.
Als der
heilige Apostel Johannes bereits das Greisenalter erreicht hatte, ließ er sich
zu den Versammlungen der Gläubigen tragen, deren Hirte er war. Und er richtete
stets die gleichen Worte an sie: „Meine Kinder, liebt einander!“ Den Zuhörern
wurde diese Wiederholung schließlich leid und sie fragten ihn: „Warum
wiederholst du immer dasselbe?“ Der Lieblingsjünger, der die Liebe an der Brust
des Erlösers gelernt hatte, antwortete ihnen darauf: „Die brüderliche Liebe ist
eben das Gebot des Meisters.“
Wenn es
euch also überraschen sollte, daß ich immer wieder darauf bestehe: „Bittet ohne
Unterlaß eure himmlische Mutter!“, so entgegne ich euch: „Es ist dies das große
Hilfsmittel der Beharrlichkeit und der Erlösung.“ Gott hat uns den kostbaren
Schlüssel zum Herzen Jesu anvertraut, zu dem reichsten aller Schätze; es wäre
unverzeihlich, wenn wir ihn nicht benutzen würden, um reichlich den Trost, das
Licht und die Kraft bei ihm zu schöpfen, deren wir so sehr bedürfen.
* * *
In unseren
Tagen schätzt man sehr die äußerst wirksamen Gebete. Da gibt es äußerst
wirksame Gebete zum heiligen Expeditus; es gibt äußerst wirksame Novenen zu
anderen Heiligen, die ich mit der Kirche tief verehre. Es gibt jedoch eine
Heilige, die alle anderen Heiligen an Glorie und Macht weit übertrifft.
Und es gibt ein Gebet, das nach dem Gebet, das
der Herr uns selbst gelehrt hat, vollkommener ist als alle anderen. In ihm erbitten wir
mit der Demut, die Gott so wohlgefällig ist, die Gnaden, die wir für den
jetzigen Augenblick und für unsere letzte Stunde brauchen. Bitte für uns
Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes!
Dieses
Gebet ist äußerst angemessen, erinnert es doch die allerseligste Jungfrau an
ihre herrlichen Vorzüge, an die Unbefleckte Empfängnis und an die hehre
Gottesmutterschaft. Es enthält einen Loberweis an ihren göttlichen Sohn, den
sie so sehr liebt. - Und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Die
Königin des Himmels kann daher dieses Gebet nicht hören, ohne gerührt zu sein.
Der
heilige Bernhard hatte die Gewohnheit, ein Muttergottesbild zu grüßen, das es
in seinem Kloster gab. Immer wenn er daran vorüberging, betete er ein Ave-Maria.
Nun erzählt die Legende, daß das Bild eines Tages Leben annahm und das Gesicht
ein Lächeln zeigte. Anmutig neigte die Gottesmutter dem Heiligen ihr Haupt zu
und sagte: „Ich grüße dich auch, Bernhard.“
Beten wir
mit Andacht den Englischen Gruß, beten wir ihn häufig, aber auch aufmerksam und
fromm. Wahrscheinlich wird uns die allerseligste Jungfrau Maria nicht auf
wunderbare Weise zurückgrüßen. Sie wird uns aber in diesem Leben beschützen
und in der schrecklichen Todesstunde wird sie uns mütterlich helfen und unsere
Seelen ins Paradies führen, dessen Königin sie ist.
(1) Mt 1, 16.
(2) Vgl. Hl. Epiphanius, Homilia 5a. in Laud. S.M.
V
(3) Summa Theologica, 2a. 2ae. q. 103, art. 4, ad 2.
(4) Is 1, 11
(5) Lk 3, 22
(6) Lk 2, 51
(7) Lk 17, 17
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Diese
Betrachtung ist entnommen aus dem Büchlein „Die Jungfrau Maria“ von P. Thomas
de Saint Laurent, DVCK e.V., 2000
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