VERGESSENE TUGENDEN
Aus einem Brief an den Bischof von Konstanz über Arnold von Brescia,
einen Schüler des Petrus Abaelard:
„Wenn der Hausherr wüsste, zu welcher Stunde der Dieb käme, wäre
er gewiss sehr wachsam und würde ihn nicht in sein Haus lassen“. Und Sie? Wissen
Sie schon, dass ein Räuber im Schutze der Nacht in Ihrem Anwesen eingedrungen
ist, oder besser gesagt, in das Anwesen, das Gott Ihnen anvertraut hat?
Sicherlich wissen Sie, dass er sich dort versteckt hält, denn die Nachricht hat
uns, die wir so weit entfernt sind, bereits erreicht. Es wundert mich überhaupt
nicht, dass Sie, da Sie die Stunde seines Angriffs nicht kannten, ihn bei
seinem nächtlichen Überfall nicht überrascht haben. Was mich wirklich erstaunen
würde, wäre, wenn Sie den Verbrecher, sobald er entdeckt wäre, nicht
identifizieren, verhaften und ihn zwingen würden, das zurückzugeben, was er
Ihnen nehmen wollte, und vor allem das, was er Jesus Christus gestohlen hat:
Seelen.
Ich spreche von Arnold von Brescia, einem Mann, von dem ich mir
wünschte, er könnte sich sowohl durch die Reinheit seiner Lehre als auch durch
die Reinheit seiner Sitten auszeichnen. Kurz gesagt, ich will Ihnen meine
Meinung über ihn mitteilen: Er ist weder der Völlerei noch der Trunkenheit
verfallen, aber er verspürt einen satanischen Hunger und Durst, Seelen zu
verschlingen und zu verlieren. Er gehört zu jener Kategorie von Männern, die
vom scharfen Blick des Apostels (1 Tim 3,5) entlarvt wurden: äußerlich sehr
fromm, in Wirklichkeit aber völlig tugendlos; oder zu jenen anderen, die der
Herr beschrieb, als er sagte: „Sie werden zu euch kommen in Schafskleidern,
aber sie sind reißende Wölfe“ (Mt 7,15). Dieser Mann hat sein ganzes Leben lang
bis heute keinen Ort verlassen, an dem er nicht traurige und schmerzhafte
Erinnerungen seines Aufenthaltes hinterlassen hätte; so sehr, dass keine Gefahr
besteht, dass er es wagen würde, in eine Region zurückzukehren, aus der er sich
einst zurückgezogen hat. Selbst das Land, in dem er das Licht der Welt
erblickte, fühlte sich durch sein Verschulden so entsetzlich erschüttert und
gequält, dass es ihn beim Papst als Urheber eines verhängnisvollen Schismas
anklagen musste, sodass Seine Heiligkeit ihn deswegen aus dieser Region
verbannte und ihn zwang, zu versprechen, nicht ohne vorherige Erlaubnis des
Heiligen Stuhls zurückzukehren. Wegen eines ähnlichen Vergehens wurde er
umgehend als berüchtigter Unruhestifter aus Frankreich verbannt; denn da er
sich vom Nachfolger des heiligen Petrus zurückgewiesen sah, beschloss er, sich
einem anderen seinesgleichen, Petrus Abaelard, anzuschließen, und nachdem er
dessen Irrtümer – die von der Kirche bereits aufgezeigt und verurteilt worden waren
– übernommen hatte, verteidigte er sie gemeinsam mit ihm, sogar mit mehr Wut
und Hartnäckigkeit als der Urheber selbst.
Und glaubt nicht, dass er sich damit zufriedengab oder seinen Zorn
besänftigt habe: Er hat noch immer seine Hand zum Schalg bereit. Obwohl er vom
rechten Weg abgekommen und verwundet ist, will er an Menschen anderer Nationen
das Unheil anrichten, das er den Menschen seines eigenen Landes nicht antun konnte,
und brüllt dabei stets wie der Löwe, der seine Beute verfolgt, um sie zu
verschlingen. Schon jetzt plant und vollbringt er, wie man mir berichtet,
Bosheit in Eurer Diözese und verschlingt euer Volk wie ein Stück leckeres Brot.
Er öffnet seinen Mund nur, um zu lästern und Bitterkeit zu säen; seine Beine
sind flink und bereit, überall hin zu eilen, wo er Blutvergießen anrichten
kann; seine Schritte sind gezeichnet von den Ruinen und dem Unglück, die er
hinterlässt; er kannte nie die Wege des Friedens. Ein Feind des Kreuzes Christi
und ein Sämann der Zwietracht, darüber hinaus ein Meister der Lügen und der
Spaltung, ein Störer des Friedens und ein entschlossener Gegner der
katholischen Einheit. Seine Zähne sind scharf wie Schwerter und Speere, und
seine Zunge ist schlimmer als ein scharfer Pfeil. Er versteht es, seine Worte
mit Sanftmut zu salben, wie mit Öl, und schießt seine vergifteten Pfeile unter
sie. Deshalb zieht er gewöhnlich mit wohlklingenden und liebenswürdigen Reden
und dem Schein der Tugend die Reichen und Mächtigen der Erde an sich. So
erfüllt sich, was in der Schrift geschrieben steht: „Er lauerte den Reichen
auf, um einen Unschuldigen zu ermorden“ (Sirach 9,29). Sobald er die Gunst der
Mächtigen gewonnen hat und sich in ihrem Einfluss und ihrer Freundschaft sicher
fühlt, werdet Ihr sehen, wie er dreist gegen den Klerus vorgeht und, mit Waffengewalt
gestärkt, sich gegen die Bischöfe selbst erhebt und in seinem Wahn alle Arten
von Geistlichen angreift.
Angesichts dessen ist es in einer so bedrohlichen Angelegenheit
das Beste, den sichersten Weg zu wählen und dem Rat des Apostels (1 Kor 5,13)
zu folgen und das Böse bei der Wurzel auszurotten. Vielleicht wäre es aber
besser, wenn der Freund des Bräutigams den Bösen nicht nur vertreiben, sondern
ihn festnehmen würde, um ihn daran zu hindern, in andere Länder zu ziehen und
weiteren Schaden anzurichten.
So hatte es der Papst bereits angeordnet, als dieser noch in
seinen Gebieten weilte, denn Seine Heiligkeit war sich des enormen Schadens
bewusst, den dieser Mann anrichtete; doch niemand war eifrig genug, ihn zu
ergreifen und dieses gute Werk zu vollbringen. Was? Befiehlt uns die Heilige
Schrift nicht geradezu, die kleinen Füchse zu jagen, die den Weinberg verwüsten
(Hohelied 2,15)? Um wie viel mehr Grund sollten wir dann einen großen, wilden
Wolf anketten, damit er nicht die Herden des Herrn reißt, die Schafe tötet und
sie ins Verderben stürzt!
(«Obras completas del Doctor Melífluo, San
Bernardo, Abad de Claraval», trad. espanhola do Pe. Jaime Pons, S. J., Rafael
Casulleras Librero-Editor, Barcelona, 1929; vol. V — «Epistolario», p. 405,
carta 195).
Aus dem Portugiesischen in “Catolicismo“ von Dezember 1958

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen