Montag, 5. Oktober 2009

VIII. Die Rolle von Verstand, Wille und Gefühl bei der Bestimmung des menschlichen Handelns




Die vorausgegangenen Überlegungen verlangen eine Vertiefung bezüglich der Rolle die Verstand, Wille und Gefühl im Zusammenhang von Irrtum und Triebe spielen.
Es könnte nämlich der Eindruck entstanden sein, wir würden behaupten, dass jeder Irrtum vom Verstand entwickelt wird, um irgendeine Form ungezügelter Triebe zu rechtfertigen. Somit sähe sich der Moralist, der eine liberale Maxime aufstellte, stets von einer liberalen Tendenz dazu getrieben.
Das ist jedoch nicht unsere Meinung. Denn es kann durchaus geschehen, dass der Moralist einzig und allein infolge der von der Erbsünde in Mitleidenschaft gezogenen Geistesschwäche zu einem liberalen Schluss kommt.
Hat es in diesem Fall nicht notwendigerweise ein moralisches Vergehen anderer Natur gegeben wie zum Beispiel eine Nachlässigkeit? Diese Frage liegt außerhalb des hier besprochenen Themenbereichs.
Wir behaupten jedoch, dass, historisch gesehen, der allererste Ursprung der Revolution in einem unbändigen Aufwallen der Triebe lag. Wir bestreiten auch keineswegs die wichtige Rolle der Glaubensirrtümer in diesem Prozess.

Bedeutende Autoren wie de Maistre, de Bonald, Donoso Cortes und viele andere haben sich mit diesen Irrtümern näher beschäftigt und erklärt, wie vom 15. zum 16. Jahrhundert und weiter bis ins 20. Jahrhundert ein Irrtum den anderen ergeben hat. Deshalb möchten wir dieses Thema hier nicht näher angehen.
Es scheint uns jedoch durchaus angebracht, auf die Bedeutung der Faktoren "Triebe" und ihren Einfluss auf die rein ideologischen Aspekte des Revolutionsprozesses, in dem wir uns befinden, einzugehen. Denn es will uns scheinen, dass man diesem Punkt zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, mit der Folge, dass ein unvollständiges Bild der Revolution entsteht und daher ungeeignete gegenrevolutionäre Methoden angewendet werden.
Über die Art, wie die Triebe auf die Ideen einwirken, ist hier noch einiges anzufügen.

1. Die gefallene Natur, die Gnade und der freie Wille

Schon vom Potenzial seiner Natur aus ist der Mensch imstande viele Wahrheiten zu erkennen und eine Reihe von Tugenden üben. Doch ohne die Hilfe der Gnade ist es ihm nicht möglich, dauerhaft diese Kenntnis zu bewahren und alle Gebote zu beobachten (vgl. I. Teil, VII. Kapitel, 2 D).
Das heißt, im gefallenen Menschen besteht eine Verstandesschwäche und eine ursprüngliche, jedem Gedankengang vorgegebene Neigung zum Aufstand gegen das Gesetz. (Die von Donoso Cortes in seinem "Ensayo sobre el Catolicismo, el Liberalismo y el Socialismo" (33) entwickelte Darstellung dieser Wahrheit hat vieles mit der vorliegenden Arbeit gemeinsam.)

2. Der Keim der Revolution

Diese Grundneigung zur Auflehnung kann in einem gewissen Moment die Zustimmung des freien Willens erhalten. Somit sündigt der gefallene Mensch, indem er das eine oder andere Gebot übertritt. Seine Auflehnung kann aber darüber hinausgehen bis zu einem mehr oder weniger uneingestandenen Hass gegen die gesamte sittliche Ordnung. Dieser wesenhaft revolutionäre Hass kann Lehrirrtümer hervorbringen, ja sogar zum bewussten und eindeutigen Bekennen von Prinzipien führen, die dem Sittengesetz und der geoffenbarten Lehre als solche entgegengesetzt sind, was einer Sünde gegen den Heiligen Geist gleichkommt. Als dieser Hass die grundlegenden Tendenzen der abendländischen Geschichte zu bestimmen begann, begann die Revolution, deren Prozess heute vor uns abläuft und in deren Irrtümer er unverkennbar seinen Stempel aufgedrückt hat. Er ist die wirksamste Ursache der großen Apostasie unserer Tage. Seiner Natur nach kann er nicht einfach auf ein doktrinäres System reduziert werden; er ist vielmehr der ungezügelte Trieb in höchstem, maßlosem Grad.
Es ist leicht zu erkennen, dass diese Behauptung, die sich auf diese konkrete Revolution bezieht, nicht besagt, ein ungezügelter Trieb müsse immer an der Wurzel eines Irrtums sein.
Und es soll auch nicht geleugnet werden, dass es oftmals ein Irrtum in dieser oder jener Seele oder in dieser oder jener sozialen Gruppe war, der zur Zügellosigkeit der Triebe geführt hat.
Wir behaupten nur, dass der revolutionäre Prozess als Ganzes und in seinen wichtigsten Episoden betrachtet, seinen regesten und tiefsten Keim in den zügellosen Trieben hatte.

3. Revolution und Unredlichkeit

Dem könnte man folgenden Einwurf entgegenhalten: Wenn die Triebe im Revolutionsprozess eine so wichtige Rolle spielen, dann scheint das Opfer dieses Prozesses immer, immer irgendwie, böswillig zu handeln. Wenn zum Beispiel der Protestantismus eine Frucht der Revolution ist, handelt dann jeder Protestant böswillig? Steht diese Behauptung nicht im Widerspruch zur Lehre der Kirche, die annimmt, dass es in anderen Religionen gutwillige Menschen gibt?
Es ist klar, dass ein echt gutgläubiger Mensch mit einem grundlegenden gegenrevolutionären Geist infolge unüberwindlicher Unwissenheit im Netz revolutionärer Sophismen - religiöser, philosophischer, politischer oder sonstiger Natur - gefangen sein kann. Solche Menschen haben natürlich daran keine Schuld.
Mutatis mutandis lässt sich das gleiche von jenen sagen, die infolge eines ungewollten falschen Verständnisses in einen oder anderen Punkt der revolutionären Doktrin zustimmen.
Wenn sich aber jemand dem Geist der Revolution anschließt, angetrieben durch ihre entfesselten Triebe, muss die Antwort eine andere sein.
Ein Revolutionär kann unter diesen Umständen von der Vorzüglichkeit seiner subversiven Leitsätze überzeugt sein. Er wäre also nicht unehrlich, er ist aber schuld an dem Irrtum, in den er gefallen ist.
Es kann auch vorkommen, dass ein Revolutionär eine Lehre vertritt, von der er nicht oder nur halbwegs überzeugt ist. In diesem Fall wäre er ganz oder teilweise unredlich...
In dieser Hinsicht ist es wohl kaum nötig hervorzuheben, dass wir mit der Behauptung, der Marxismus sei schon in der Reformation und in der Französischen Revolution enthalten gewesen, nicht sagen wollen, dass die Anhänger beider Bewegungen bewusst Marxisten "avant la lettre" gewesen seien und ihre wahre Meinung heuchlerisch getarnt hätten.
Das Wesen der christlichen Tugend ist die rechte Anordnung der Seelenkräfte und die Steigerung der Klarheit des von der Gnade erleuchteten und vom kirchlichen Lehramt geleiteten Verstandes. Aus keinem anderen Grund sind alle Heiligen ein Beispiel der Ausgeglichenheit und der Unvoreingenommenheit. Die Sachlichkeit ihrer Urteile und die feste Entschlossenheit ihres Willens zum Guten werden auch nicht im geringsten durch den giftigen Hauch der ungezügelten Triebe geschwächt.
In dem Maße aber, in dem der Mensch von der Tugend abkommt und sich unter das Joch dieser Triebe stellt, nimmt seine Sachlichkeit in allem ab, was mit diesen Tugenden verbunden ist. Ganz besonders wird die Sachlichkeit bezüglich der Beurteilung seiner selbst gestört.
Inwieweit sich der vom Geist der Revolution geblendete Revolutionär der langsamen Gangart im 16. oder im 18. Jahrhundert tatsächlich bewusst war von der tieferen Bedeutung und den letzten Konsequenzen ihrer Lehre, ist von Fall zu Fall ein Geheimnis Gottes.
Jedenfalls ist die Hypothese, sie seien alle bewusste Marxisten gewesen, völlig auszuschließen.



IX. Auch der „Halbgegenrevolutionär“ ist ein Kind der Revolution



Alles bisher Gesagte gibt Anlass zu einer praktischen Beobachtung.
Menschen, die von dieser inneren Revolution geprägt sind, können eventuell auf Grund äußerer Umstände und Zufälle, wie z.B. einer in stark traditionalistischen und sittlichkeitsbewusster Umgebung genossenen Erziehung, in einem oder mehreren Punkten eine gegenrevolutionäre Haltung bewahren (s. I. Teil, Kapitel VI., 5 A).
Dennoch hat sich in der Mentalität dieser „Halbgegenrevolutionäre“ der Geist Revolution festgesetzt. Und in einem Volk, das sich in seiner Mehrheit in einem solchen Geisteszustand befindet, ist die Revolution unbezwingbar, solange sich dieser Zustand nicht ändert.
Somit bedingt die Einheit der Revolution auf der anderen Seite, dass der echte Gegenrevolutionär nur ein Ganzer sein kann.
Was die „Halbgegenrevolutionäre“ angeht, in deren Seele das Idol der Revolution zu schwanken beginnt, sieht die Lage etwas anders aus. Im zweiten Teil, Kapitel XII 10, werden wir näher darauf eingehen.